Michael Turinsky ist Philosoph, Tänzer und Choreograf. Weder in der einen noch in der anderen Profession geht es ihm darum, Geschichten zu erzählen. Viel lieber möchte der mit einer Zerebralparese geborene Künstler in seinen Arbeiten utopische Gegenwelten schaffen, die es erlauben, sich den Takt, nach dem man leben möchte, selbst auszusuchen. Wir haben ihn anlässlich der Österreich-Premiere seiner aktuellen Arbeit „Soiled“ in seiner Wiener Wohnung besucht.

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BÜHNE: Du hast Philosophie studiert und bist seit mehr als einem Jahrzehnt als Tänzer und Choreograf aktiv. Wo treffen sich Tanz und Philosophie?

Michael Turinsky: Wie die Philosophie hat auch der Tanz, wie ich ihn verstehe, wenig mit Narration zu tun. Außerdem geht es für mich in beiden Bereichen um eine Form der Virtuosität. So kann in der Art und Weise, wie in der Philosophie Ideen artikuliert werden, eine große Virtuosität liegen. Im Tanz dreht sich alles um die Virtuosität körperlicher Artikulation, aber auch um Nuancierungen. Letzteres ist auch etwas, das beide Disziplinen verbindet. Während in der Philosophie die begriffliche Nuancierung im Fokus steht, ist es im Tanz die Nuancierung von Bewegung und Rhythmus.

Gehst du eher vom Kopf oder vom Körper aus, wenn du an einem neuen Projekt arbeitest?

Ich würde sagen, dass es bei mir zumeist ein Oszillieren ist. Für mich sind Körper und Geist zwei vollkommen gleichwertige Quellen, die auch immer gleichzeitig präsent sind.

Streiten die auch manchmal miteinander?

Die streiten durchaus miteinander (lacht). Es geht mir im Tanz aber auch niemals darum, bestimmte Theorien oder Ideen zu illustrieren. Ich finde es viel spannender, eine produktive Spannung zwischen Ideen und Empfindungen, herzustellen.

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Demnächst ist deine aktuelle choreografische Arbeit „Soiled“ in Tanzquartier zu sehen. Worum geht es?

Mir ging es bei dieser Arbeit vor allem darum, mit der Vorherrschaft des aufgerichteten Körpers, der sich unablässig vorwärtsbewegt, zu brechen. Ich wollte diesem Bild einen anderen Körper entgegensetzen – einen pulsierenden Körper, der näher am Boden dran ist. Der Bruch mit der Vorherrschaft der Vertikalität ist für mich außerdem ein Bruch mit der Visualität.

Wie meinst du das?

Wenn wir aufrecht stehen, haben wir einen weiten Blick, der uns eine fast herrschaftliche Übersicht ermöglicht. Brechen wir damit, spielen plötzlich auch alle anderen Sinne eine zentrale Rolle. Das ist auch einer der Gründe, warum es mir bei dieser Arbeit wichtig war, sie mittels Audio-Beschreibung für sehbehinderte und blinde Menschen zugänglich zu machen. Auch aus dem Wunsch heraus, ein Stückweit mit der Vorherrschaft des Visuellen zu brechen.

Michael Turinsky Soiled

Es performen David Bloom, Sophia Neises und Liv Schellander. Foto: Michael Loizenbauer

Denkst du in deiner choreografischen und tänzerischen Arbeit Erwartungen oder Wünsche seitens des Publikums mit?

Ich glaube, dass ich mir meistens eher die Frage stelle, was sich das Stück wünscht. In diesem Fall war es so, dass ich eine Erfahrung gestalten wollte, in der die Zuschauer*innen in ihrer Aufmerksamkeit möglichst frei sein können. Es ist ihnen überlassen, ob sie mal hierhin, mal dorthin schauen, das langsame Hochköcheln einer Erinnerung zulassen möchten, an ihre Großtante denken oder zum Nachbarn schauen wollen. Ich möchte ihre Aufmerksamkeit nicht fesseln. Durch TikTok und andere Plattformen sind wir sehr auf kurze, möglichst flashige Eindrücke fixiert, die einem geradezu entgegenspringen. Dem wollte ich eine andere Form der Aufmerksamkeit entgegensetzen, die sehr viel mit Sinnlichkeit und einer anderen Zeitlichkeit zu tun hat.

Liegt darin für dich auch eine Widerständigkeit?

Durchaus. Für mich besteht diese Widerständigkeit in einer Gegen-Sinnlichkeit. Wenn man tanzt, entsteht eine andere Textur des menschlichen Miteinanderseins. Die Art und Weise wie wir Menschen miteinander verbunden sind, hat bestimmte visuelle und akustische Qualitäten, aber auch einen bestimmten Rhythmus. Ich finde, dass der Tanz eine andere Textur des Miteinanderseins und der gemeinsamen Bewegung vorschlägt. Darin liegt für mich – vor allem in zeitlicher Hinsicht – sehr viel widerständiges Potenzial. Denn der Tanz macht eine fundamental andere Rhythmisierung möglich, die sich von der permanenten Durchtaktung entfernt. Es ist ein Bruch mit dieser Art der Durchtaktung.

Tanz ist die Verheißung einer Zukunft, die es uns erlaubt, vielleicht ein bisschen weniger aufgerichtet und durchgetaktet durchs Leben zu wandeln.

Michael Turinsky

Aber ist nicht gerade im Tanz alles perfekt getaktet? Ein Trugschluss?

Man möchte meinen, Tanz wäre die Durchtaktung par excellence. So wie ich Tanz verstehe, ist es aber eher ein Bruch damit. Das bedeutet allerdings nicht, dass man in eine Form von Stillstand verfällt, sondern, dass auch andere Taktungen möglich sind. Das ist für mich der wesentliche Aspekt der bereits angesprochenen Widerständigkeit. Darüber hinaus bietet Tanz die Möglichkeit, Dinge offenzulassen – er erlaubt eine Mehrdeutigkeit. Das sind für mich ebenfalls wichtige Bestandteile dieser Widerständigkeit.

Michael Turinsky Soiled

Michael Turinsky lebt und arbeitet als Choreograf, Performer und Theoretiker in Wien. Foto: Danila Amodeo

Für mich klingt das beinahe nach Utopie …

Ich sehe das auch so. Tanz ist die Verheißung einer Zukunft, die es uns erlaubt, vielleicht ein bisschen weniger aufgerichtet und durchgetaktet durchs Leben zu wandeln. In der wir uns in unsere Kindheit zurückversetzen können und vielleicht auch beginnen, uns wieder mehr mit dem Boden zu verbinden. Und in der wir all den Menschen, die ständig mit dem Boden zu tun haben, wieder mehr Wertschätzung entgegenbringen. In der Zeit, in der ich diese Arbeit entwickelt habe, hatte ich das Gefühl, dass ich diese frühen kindlichen Erfahrungen vom lustvollen Herumkugeln im Garten meiner Großmutter wieder durchleben möchte. Die Vergangenheit als Zukunftspotenzial zu sehen, finde ich hochspannend – dieses Ursprüngliche und Spielerische als Gegenentwurf für eine besser Zukunft zu betrachten.

Gab es noch eine weitere Initialzündung?

Die gibt es. Ich hatte die Möglichkeit in Graz beim sogenannten TanzPflanzPlan mitzuwirken. Das ist ein Feld, auf dem Gemüse angebaut, aber auch getanzt wird. Wir waren dazu aufgerufen, uns ein Gemüse zu suchen und uns damit zu bewegen. Ich habe einen entzückenden, kleinen Kürbis gefunden, mit dem ich dann gemeinsam am Boden herumgekugelt bin. Besonders beeindruckt war ich von der grünen Nabelschnur, die seinen dicken Bauch mit der Erde verbunden hat. Dabei dachte ich auch an Donna Haraways Ausspruch „make kin, not babies“.

Zu den Spielterminen von „Soiled“ im Tanzquartier Wien