Stefan Herheim: Architekt der Wirklichkeit
Musikgetriebene Opernpersönlichkeit mit international akklamierten Regiequalitäten. Stefan Herheim inszeniert Händels Oratorium „Theodora“ als spirituelles Plädoyer für aufgeklärte Selbstbestimmung. Ein tiefschürfendes Wagnis.
Kontemplative Kunst. Stefan Herheim ist überzeugend entspannt. Er hat zum Zeitpunkt des Fotoshootings mit anschließendem Interview gerade einen Urlaub in seiner Heimat Norwegen hinter sich, war mit Freunden segeln und hat auch das eine oder andere spätabendliche soziale Get-together genossen.
Dringend notwendig nach dem ambitionierten ersten Jahr als Intendant des MusikTheaters an der Wien, das ob der Renovierung des Haupthauses an der Linken Wienzeile ein Ausweichquartier in der Halle E des MuseumsQuartiers bezogen hat. Dort wird es auch die aktuelle Spielzeit absolvieren. Der Direktor selbst bringt hier Georg Friedrich Händels selten aufgeführtes dramatisches Oratorium „Theodora“ zur Inszenierung, das zu Lebzeiten des Komponisten lediglich vier Mal gezeigt wurde und in dem es – ähnlich wie beim Saisonauftakt „Les Martyrs“ – um eine christliche Märtyrerin geht.
Warum gerade jetzt ein Oratorium?
„Es ist neben ,Messiah‘ das einzige christliche Oratorium von Händel und nimmt in gewisser Hinsicht etwas vorweg, was erst mit Wagner wieder zur Sprache kommt: das innere Drama, wo alles, was Oper oder Musikdramatik ausmacht, einem inneren Kern dient und auch einen solchen hat“, erklärt Stefan Herheim. „Diese Musik hat eine unglaubliche, nach innen gerichtete Kraft, das Stück verzichtet auf jegliche Theatralik, wurde aber für das Theatre Royal in Covent Garden (heute Royal Opera House; Anm.) geschrieben und dort auch uraufgeführt. Es markiert insofern einen Paradigmenwechsel, als das englische Bürgertum genug hatte von den italienischen opere serie und sich in seinem Kunstkonsum auf christlich-moralische Wertvorstellungen besinnen wollte. Das ist natürlich bigott. Aber es ist auch faszinierend, und ich hoffe, dass es uns gelingt, diese Widersprüche ästhetisch und inhaltlich aufzuzeigen.“ Mit „uns“ ist unter anderem Bejun Mehta gemeint – der weltweit gefeierte Countertenor, der mit „Theodora“ sein Dirigentendebüt am MusikTheater an der Wien geben wird und mit dem Stefan Herheim „ein inniges und vertrautes Verhältnis“ pflegt, „das schlichtweg auf seinen Fähigkeiten beruht, als musikalischer Vermittler aufzutreten“.
Wenn es schiefgeht, ist nichts dümmer und langweiliger als Oper. Aber wenn es gelingt, dann ist Oper unschlagbar.
Stefan Herheim, Intendant
Aber warum gerade jetzt ein Oratorium, das sich noch dazu gegen eine Inszenierung sträubt? „Wir leben in einer pluralen Vielfalt, die uns alle überfordert, weil wir von sinnlichen Eindrücken überschwemmt werden. Und hier passiert genau das Gegenteil, es geht um einen bewussten Entzug aus der Welt. Wenn in unserer Zeit etwas fehlt, dann ist das Spiritualität und ein gemeinsames Projekt, eine Vorstellung vom Leben und der Welt, davon, wie wir unsere Gesellschaft gestalten könnten.“ Man müsse und könne die Handlung gar nicht eins zu eins linear erzählen, schließlich gehe es um philosophische Reflexionen, um die Fähigkeit des Menschen zu transzendieren, wenn die Welt an sich selbst scheitert.
„Das ist ein hochbrisantes Thema, denn wir sind nicht in der Lage, unsere existenziellen Voraussetzungen zu akzeptieren, auf Augenhöhe mit der Natur die Schöpfung zu lieben. Und dann lieben wir irgendwann auch uns selbst nicht mehr. Das ist eigentlich der Kernmythos des Theaters, und wenn dieser in Musik verkörpert wird, passiert etwas Wundersames, das vielleicht auch gar nicht mehr viel Theater braucht.“
Es lohnt sich bei Stefan Herheim, immer bis zum Ende der Antwort dranzubleiben. Er wolle, so erklärt er weiter, bei „Theodora“ vor allem die Musik sprechen lassen.
Abgeklärt aufgeklärt
Mit Blick auf die Programmierung der aktuellen Saison bezeichnete der Intendant im vorsommerlichen Gespräch mit der BÜHNE „Besonnenheit als Kraftquelle“. Wir bitten um Präzisierung der poetischen Phrase.
„Es geht darum, unsere Komfortzonen zu verlassen und zu begreifen, dass wir alle Architekten der Wirklichkeit sind und nicht bloße Konsumenten, Mitläufer und Jasager. Wir müssen diese Verantwortung verstehen, die ja im Kern den Tenor der Aufklärung ausmacht. Aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit im Sinne Immanuel Kants zu erwachen ist meiner Meinung nach relevanter denn je geworden. Besonnenheit heißt in dieser Hinsicht, Räume zu öffnen, in denen man seelisch, emotional, sinnlich durchexerziert, wo wir eigentlich hinwollen, was uns guttut, denn momentan sind wir uns selbst entfremdet. Besonnenheit ist also kein Kissen, auf dem man sich ausruhen sollte. Im Gegenteil.“ Abgeklärt ist der aufgeklärte Stefan Herheim also in seiner ursprünglichen Definition, bezeichnet das Adjektiv doch einen „aufgrund von Lebenserfahrung ausgeglichenen, besonnenen Menschen“.
Tut uns Religiosität, wie sie die Titelheldin in „Theodora“ praktiziert und die im Stück mit dem Märtyrertod endet, gut? „Ich denke, dass es kein Leben ohne Spiritualität gibt, die sich sprachlich wiederum meist nur über eine religiöse Ausdrucksweise definieren und verstehen lässt. Für mich ist Oper in ihrer abstrakten Kombination aus Klang, Text und Bild auch nichts anderes als der Versuch, die Quadratur des Kreises in einem göttlichen Dreieck – auf der Suche nach uns selbst – zu finden.“
Zur Person: Stefan Herheim
Seine Salzburger „Entführung aus dem Serail“ führte 2003 erst zu Eklats und wurde dann Kult. Herheim lernte Cello, spielte Marionettentheater und gilt als einer der spannendsten Regisseure. Seit Herbst ist Herheim der neue Intendant des Theaters an der Wien. Seine Inszenierung von Janáčeks „Schlauem Füchslein“ wurde eben von Kritik und Publikum gefeiert.
Berufswunsch Papst
Stefan Herheim ist ausgebildeter Cellist und betrieb sein eigenes Marionettentheater, ehe er Opernregie studierte.
„Eigentlich ist Regie die Konsequenz aus der Tatsache, dass ich mich nie wirklich für etwas entscheiden konnte. Ich muss ganz unbescheiden sagen, dass ich als Kind zu viele Talente, jedenfalls zu viele Interessen hatte, ich war ein Tausendsassa, der vom Kostümdesign über Singen und Tanzen bis zum Cellospiel alles gemacht hat. Allerdings dachte ich nie, dass ich als Alphatier in der ersten Reihe stehen und mich dort auch behaupten könnte. Das hat auch kulturgeschichtliche Hintergründe, weil ich Norweger bin und die zentraleuropäische Operngeschichte nicht Teil der Kultur ist, in der ich aufgewachsen bin.“
Deshalb sei es für ihn auch wichtig gewesen, das Exilantentum zu wagen, nach Deutschland zu gehen, sich sprachlich neu zu definieren und bildungstechnisch einiges nachzuholen. Das Virus Musik trug der Sohn eines Orchestermusikers da längst schon in sich, wozu auch die Religion beigetragen hat.
„Ich bin, was im protestantischen Norwegen ungewöhnlich ist, katholisch aufgewachsen und über Klosterkirchen auf kreative Weise mit Geistlichen in Kontakt gekommen. Ich habe mit Mönchen Puppentheater gespielt und im Knabenchor unserer Kirche gesungen. Wir haben jährlich drei Wochen im Vatikan verbracht und für den dortigen Knabenchor vikariiert. So lernte ich auch den Papst persönlich kennen. Wenn man mich mit sieben Jahren gefragt hätte, was ich werden will, hätte ich geantwortet: Bischof von Rom.“
Es kam anders. Stefan Herheim studierte von 1994 bis 1999 bei Götz Friedrich an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg Regie und konnte in der Folge rasch auch international reüssieren. Welche Fähigkeiten sollte man bei aller Unmöglichkeit einer allgemeinen Job-Description für diesen Beruf mitbringen? „Ich würde da einen grundlegenden Unterschied zwischen Opern- und Schauspielregie machen, der leicht erklärt ist: Im Schauspiel schafft man Zeit, man muss den Zeitrahmen definieren. In der Oper ist dieser gesetzt durch Musik und muss entsprechend gefüllt werden. Das ist rein handwerklich eine völlig andere Perspektive. Wenn es schiefgeht, ist nichts dümmer und langweiliger als Oper. Aber wenn es gelingt, dann ist Oper unschlagbar.“
Um letzteren Zustand herbeizuführen, brauche es die Anstrengung der Übersetzungsarbeit, die bei ihm immer über die Musik stattfinde. „Daraus schöpfe ich meine Kraft. Ich will schon die Geschichte erzählen, aber mit, durch und in der Musik. Mich verblüfft oft, wie überrascht Sänger und Dirigenten sind, dass ich Musik auch tatsächlich lesen kann. Aber wenn man Bäcker ist, sollte man doch auch etwas vom Brotbacken verstehen. Ich finde, es ist eine Schande, wie wenig sich die Oper um sich selbst kümmert und ihre eigenen Prämissen wahrnimmt.“
Zur Person: Das Stück
Alban Bergs Oper „Lulu“, vor deren Fertigstellung er starb, entstand nach zwei Tragödien von Frank Wedekind. Sie behandelt das fatale Leben Lulus, ihre Beziehungen – im Zentrum Dr. Schön –, Aufstieg und Fall all ihrer Männer sowie ihren eigenen Absturz. Im MusikTheater an der Wien werden in Koproduktion mit den Wiener Festwochen die zwei von Berg vollendeten Akte, ergänzt um Teile der „Lulu“-Suite, gezeigt.
In Händels dramatischem Oratorium weigert sich die Frühchristin Theodora, dem Gott Jupiter zu huldigen, und wird vom römischen Statthalter Valens ins Gefängnis geworfen. Der Offizier Didymus verliebt sich in sie, sein Freund Septimius erlaubt ihm, sie im Gefängnis zu besuchen. Die beiden tauschen die Gewänder, Theodora kann fliehen, wird allerdings gefasst und geht gemeinsam mit Didymus in den Märtyrertod.
Intendanz als Chance
Für ihn sei jede Inszenierung eine immense Herausforderung, weil er – auch wenn er das klassische Standardrepertoire von Mozart und Wagner über Verdi und Puccini stark tangiert bis komplett durchexerziert habe – gerne Neuland betrete. Und Intendant sei er geworden, „weil ich es nach zwanzig Jahren als Regisseur satt hatte zu spüren, wie schwierig es auch an den tollsten Opernhäusern der Welt geworden ist, die Verhältnismäßigkeit der miteinander wirkenden Kräfte in der Operation Oper hinzubekommen. Da wird auf so vieles nicht mehr geachtet und wiederum so vieles völlig unverhältnismäßig priorisiert. Oper geht ja nicht kaputt von außen – wenn, dann schaffen wir uns selber ab. Als Intendant habe ich die Möglichkeit, dieser Ignoranz mit Konsequenz zu begegnen und Arbeitsvoraussetzungen zu schaffen, bei denen sich die Beteiligten auf die Kunst fokussieren können.“
Wien erlebe er als lebenswerte, generöse, kulturell erwachsene, offene Weltstadt, die aber auch in einer merkwürdigen Vergangenheit gefangen sei. „Was Wien kulturell bietet, ist europaweit einmalig. Das Angebot ist ebenso groß wie der Anteil der Wiener*innen, die das auch nutzen. Dass wir kurz nach Corona schon wieder bei 85 Prozent Auslastung liegen, macht mich stolz.“ Er fühle sich hier jedenfalls sehr wohl – „gerade nach 23 Jahren Berlin und diesem übertrieben legeren Laissez-faire, das eigentlich nichts anderes ist als Ignoranz“. Schmeichelhafter Nachsatz: „Ich glaube, es ist schöner, in Wien älter zu werden, als in Berlin.“