Gleich wird es regnen“, sagt Schauspieler Joseph Lorenz. Danach: ein kurzer Moment der Stille. Die einnehmende Tiefgründigkeit, mit der er diese wenigen Worte ausspricht, lässt den eigenen Blick sofort durch die Fensterscheibe nach draußen wandern. Um festzustellen: alles trocken. Die Oktobersonne lacht vom Himmel, und in der Kantine des Theaters in der Josefstadt formen sich nun auch die Mundwinkel des großgewachsenen Schauspielers mit der tiefen Stimme zu einem Lächeln. Dass es in einem Interview – allem Anschein nach – um die aktuelle Wetterlage geht, ist eigentlich kein gutes Zeichen. Im Falle des Stücks

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Onkel Wanja“ von Anton Tschechow kann es jedoch durchaus passieren, da die Beschreibungen von Wetterphänomenen häufig so etwas wie „innere Wetterberichte der Figuren“ sind, erklärt der gebürtige Wiener, der in Amélie Niermeyers Inszenierung den pensionierten Professor Serebrjakow spielt.

„Wenn ich es richtig im Kopf habe, komme ich ungefähr dreimal in den Raum und sage, wie das Wetter gerade ist“, wirft Schauspielerin Alma Hasun lachend ein. In ihrer dritten Arbeit mit Amélie Niermeyer schlüpft sie in die Rolle der Jelena, der Frau des Professors. Wie alle Figuren in Tschechows vielgespieltem Stück befindet auch sie sich nicht nur in einer Art Sturmtief, sondern im Auge eines Wirbelsturms. Unfähig, sich in irgendeine Richtung zu bewegen, gelingt es ihr nicht, sich zu befreien.

Die Tragödie geht schief

Die innere Wetterlage der beiden Spielenden scheint hingegen gut zu sein – mit viel Klarheit und Offenheit sprechen sie über das Stück und die Arbeit daran.„Die Figuren in diesem Stück suchen nach etwas, treten dabei aber auf der Stelle. Sie sind wie Fliegen, die ständig gegen eine Scheibe fliegen. Sie sehen, dass es weitergeht, aber verstehen nicht, wie sie dort hinkommen. Ich sehe da durchaus Parallelen zur gegenwärtigen Situation der Menschheit“, sagt Joseph Lorenz.

Obwohl Resignation, Stagnation und Desillusion das emotionale Fundament des Textes bilden, der sich um familiäre (im erweiterten Sinn) Verstrickungen dreht, ist es auch ein zutiefst komischer Text, sind sich Joseph Lorenz und Alma Hasun einig. „Ich mag an Tschechow grundsätzlich sehr, dass Komödie und Tragödie so nah beieinanderliegen“, bringt die Schauspielerin ihre Begeisterung für die Stücke des russischen Dramatikers auf den Punkt. Joseph Lorenz nickt und fügt hinzu: „Wenn man von der klassischen These ausgeht, dass eine Komödie eine Tragödie ist, die schiefgeht, dann haben wir es hier mit einer bombastischen Komödie zu tun. Anders als in der ‚Möwe‘ oder in ‚Drei Schwestern‘ bringt sich hier niemand um, kein Gut wird verkauft, und es wird auch niemand erschossen. All das passiert zwar fast, aber es wird nicht zu Ende geführt. Die Tragödie geht schief.“

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Amélie Niermeyer
Amélie Niermeyer wurde in Bonn geboren und startete ihre Regiekarriere im Alter von 23 Jahren am Münchner Residenztheater. Sie leitete das Theater Freiburg und das Düsseldorfer Schauspielhaus. Seit 2011 ist sie Regieprofessorin am Mozarteum Salzburg und leitet dort den Studiengang für Schauspiel und Regie. Sie ist bekennender Tschechow-Fan und erkennt in „Onkel Wanja“ viele Bezüge zu unserer Zeit.

Foto: Privat

Komisches Sudern

„Die Komik entsteht unter anderem durch die starken emotionalen Schwankungen der Figuren“, sagt Regisseurin Amélie Niermeyer, als wir sie am Tag davor nach der Probe im Café Eiles treffen. „Außerdem lässt die ständige Selbstreflexion der Figuren, die allerdings zu keinerlei Änderungen führt, eine gewisse Ironie des Daseins entstehen. Sie fragen sich, was sie hier gerade tun, und tun es dann trotzdem. Auch im andauernden Jammern der Figuren steckt etwas Komisches – und eine große Liebenswürdigkeit.“

Die in sich und ihrer Welt gefangenen Figuren scheiterten in erster Linie an sich selbst, ergänzt die Regisseurin, die „Onkel Wanja“ schon lange auf ihrer Liste hatte. „Die Grundkonstellation in diesem Haus ist sehr merkwürdig. Alle kleben aufeinander und kommen nicht voneinander los. Dass sie sich in diesem Umfeld gegenseitig behindern, ist zwangsläufig so. Spannend finde ich auch, dass es mit Astrow eine Figur gibt, die dafür kämpft, dass man die Natur wieder ernst nimmt. Seine Texte sind extrem heutig.

Alma Hasun
Alma Hasun spielt Jelena. „Onkel Wanja “ ist nach „Der Kirschgarten“ und „Anna Karenina“ ihre dritte Arbeit mit Amélie Niermeyer. Obwohl sie gerade mehr dreht, möchte sie das Theater auf keinen Fall missen.

Foto: Hilde van Mas

Obwohl im Stück immer wieder von Langeweile die Rede ist, dürfe man den Begriff nicht in unserem gegenwärtigen Sinne deuten, sind Alma Hasun und Joseph Lorenz überzeugt. „Ich glaube, dass es eher um eine Leere geht, die die Figuren empfinden. Bei Jelena ist es jedenfalls so, dass sie nicht weiß, wohin mit sich selbst. Dadurch entsteht bei ihr dieses Gefühl“, sagt Alma Hasun, die sich sehr freut, die Rolle spielen zu dürfen. „Ich habe lange vor allem junge Frauen gespielt – weil ich ja auch selbst noch sehr jung war. Jetzt bin ich 35 und merke, dass ich an einem anderen Punkt bin. Jelena ist zwar auch eine charmante Frau, aber sie hat auch Ecken und Kanten. Sie ist alles andere als ein Opfer, gibt Konter und nimmt sich, was sie will. Trotzdem weiß sie auch manchmal nicht, wohin mit sich.“

Ihr sei es sehr wichtig gewesen, dass Alma Hasun in ein anderes Fach wechselt und die Rollen der „jungen, süßen Mädchen“ hinter sich lässt, findet Amélie Niermeyer klare Worte. Joseph Lorenz kannte die Regisseurin zwar aus anderen Produktionen, jedoch noch nicht aus der gemeinsamen Arbeit. „Die Rolle des Serebrjakow ist nicht einfach, weil er mit seiner dauernden Larmoyanz ab und zu das ganze Haus nervt. Darunter steckt aber eine große Not und ein feiner Humor – man muss ihn lieben und die komplizierte Beziehung zu Jelena verstehen“, so Niermeyer.

Die scheinbare Widersprüchlichkeit der Figur beschäftigt auch Joseph Lorenz sehr. Er fände es jedoch falsch, den Serebrjakow davon zu befreien und damit sämtliche Fragen, die sein Charakter aufwirft, voreilig niederzubügeln.

„Das Spannende an der Arbeit ist unter anderem, einen inneren Kern zu finden, von dem all diese verschiedenen Facetten ausgehen. Und sie dann auch darzustellen – in all ihren Amplituden.“

Nachtland

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Sich zur Disposition stellen

Wer Amélie Niermeyers Arbeiten ein wenig kennt, wird rasch bestätigen können, dass das Glattziehen von Widersprüchen nicht zum Katalog ihrer Anliegen gehört. Ganz im Gegenteil. Die Proben mit der Theater- und Opernregisseurin nimmt Alma Hasun auch diesmal als sehr offen wahr. „Wir probieren viel zusammen aus. Sie ist offen für Vorschläge und die Fantasie der Spieler*innen. Außerdem ist sie ein warmer, toller Mensch, der sich wirklich für die Menschen interessiert, mit denen sie arbeitet. Sie gibt dir von Anfang an das Gefühl, dass sie total dankbar dafür ist, genau dich für diese Rolle zu haben. Das macht mir Mut und kitzelt Neues aus mir heraus“, merkt die Schauspielerin an, die sich ihren Theaterrollen gerne auf körperliche Weise nähert.

Joseph Lorenz
Joseph Lorenz spielt Professor Serebrjakow. Der gebürtige Wiener gehört seit 2018 zum Ensemble der Josefstadt. Davor war er u. a. am Burgtheater engagiert. An seiner Rolle reizt ihn unter anderem ihre Widersprüchlichkeit.

Foto: Hilde van Mas

Auch Joseph Lorenz kommt diese offene, spielerische Arbeitsweise sehr entgegen. Mit ruhiger Stimme – und einem beinahe verschmitzten Grinsen am Ende seiner Ausführungen – hält er fest: „Ich glaube, dass es für mich nicht darum geht, in eine Rolle zu schlüpfen, sondern eine Figur durch mich durchzulassen – mich zur Disposition zu stellen. Die Figur nimmt sich dann schon, was sie braucht – wie ein Vampir. Klappt es nicht, hat man sich vielleicht nicht ehrlich genug zur Disposition gestellt.

Offen ja, aber niemals visionslos – so könnte man Amélie Niermeyers Arbeitsweise möglicherweise zusammenfassen.

„Ich bin eine Regisseurin, die sehr gut vorbereitet ist, trotzdem ist es mir wichtig, mich mit den Spielenden gemeinsam auf die Suche zu begeben. Gerade Tschechow lässt einem viele Freiheiten. Ich versuche, das dann zu lenken, zu filtern und auszuwerten“, fasst Niermeyer zusammen, die heute um einiges gelassener agiert als zu Beginn ihrer Karriere. Sie sagt: „Ich muss nicht mehr alles am ersten Tag wissen und im Griff haben.“

Weil sie in den vergangenen Jahren auch einige Opern inszeniert hat, wollen wir noch von ihr wissen, warum im Musiktheater so wenige Frauen Regie führen. Sie überlegt kurz und antwortet: „Frauen wird grundsätzlich immer noch nicht zugetraut, so einen großen Laden im Griff zu haben – was ich völlig falsch finde, denn Frauen sind auf Proben meistens besser vorbereitet und haben längst genug Autorität, um riesige Gruppen zu leiten. Allerdings verkaufen sich die Männer häufig mit mehr Chuzpe.“

Noch immer keine Spur von Regen. Und selbst wenn der Achte plötzlich zum permanenten Tiefdruckgebiet würde, könnte es dem Tschechow-High des „Onkel Wanja“-Teams wohl nichts anhaben.

Hier zu den Spielterminen von Onkel Wanja im Theater in der Josefstadt!