Augenblick, verweile doch!
Eine Theaterinszenierung als Aneinanderreihung aufblitzender Augenblicke – gemeinsam mit dem Fotografen Marcel Urlaub taucht Kay Voges Goethes „Faust“ in völlig neues Licht.
Irgendwo in der hintersten Ecke des Bücherregals staubt es vor sich hin, das gelbe, an den Ecken schon leicht verbeulte Reclam-Büchlein mit der Aufschrift „Faust. Der Tragödie Erster Teil“, dessen Anblick sofort eine Vielzahl längst vergessen geglaubter Momente zurück ins Gedächtnis spülen würde. Erinnerungen an im allerletzten Augenblick verfasste Hausübungstexte, mit der Hand hingeschmierte Schularbeiten oder auch an Klaus Maria Brandauers weiß geschminktes Gesicht, wie es aus dem gerade noch unter vorfreudigem Gelächter in die Klasse geschobenen Medienwagen nun in dauermüde pickelige Gesichter blickt.
Goethes 1808 veröffentlichtes Theaterstück ist für viele untrennbar mit der eigenen Schulzeit verbunden. Es scheint fast so, als bräuchte es schon die eine oder andere Sturmböe, um die Staubschicht, die sich seit der Oberstufe auf dem schmalen Bändchen gebildet hat, abzutragen. Oder einen Theaterdirektor wie Kay Voges, der angetreten ist, um mit seinem vielfältigen Programm die Wiener Theaterlandschaft ein wenig aufzuwirbeln. Am 24. September feiert seine „Faust“-Inszenierung im Volkstheater Premiere.
Faust von Johann Wolfgang von Goethe
Ursprünglich gar nicht für die Bühne gedacht, wurde Goethes „Faust“ zu einem Klassiker. Ein Monumentalwerk, das wir hier kurz zusammenfassen. Weiterlesen...
Er sei mit den berühmten Zeilen aus Goethes Tragödie aufgewachsen, erklärt Voges, der im Herbst in seine dritte Spielzeit als Intendant des Volkstheaters startet. „Mein Vater spielte damals die Gustaf-Gründgens-Schallplatte rauf und runter“, erinnert er sich. „Seitdem ich am Theater Regie führe, war es mein Wunsch, eines Tages ‚Faust‘ zu inszenieren – mit all seinen Wundern und Schwierigkeiten und mit dem Wissen von 200 Jahren Rezeptionsgeschichte im Rücken.“
Momente konservierbar machen
Für den in Düsseldorf geborenen Regisseur und Intendanten ist es ein in jeglicher Hinsicht überwältigendes, kaum fassbares Werk voller Figuren, die am Rande einer neuen Epoche stehen und aus der Vergangenheit in die Gegenwart stürzen. „Als die Planungen für unsere nächste Saison im Volkstheater begannen, stand ich alter Tor also auf der Suche nach Inspiration vor meinem Regal, griff zur abgewetzten ‚Faust‘-Ausgabe, und sofort kamen Bilder, Situationen, Ideen. Hier auf dieser Bühne mit diesem fantastischen neuen Ensemble – nun war der richtige Augenblick gekommen“, erzählt Kay Voges.
Um Augenblicke – richtige, falsche und alle dazwischen – geht es auch in seiner Inszenierung. Ausgehend von dem berühmten Faust-Zitat
Werd ich zum Augenblicke sagen Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehen!,
Johann Wolfgang von Goethe
lotet Kay Voges gemeinsam mit seinem Team, dem eng mit dem Theater verbundenen Fotografen Marcel Urlaub und dem Ensemble die Verbindungen zwischen Theater und Fotografie aus. „Mit dem Fotografen Marcel Urlaub verbindet mich schon eine längere Kooperation – vor fünf Jahren haben wir gemeinsam am Schauspiel Dortmund eine Inszenierung namens ‚hell / ein Augenblick‘ gemacht, eine Art Bühnenessay über Fotografie und Vergänglichkeit. Seit jeher – selbst noch in der heutigen Bilderschwemme des digitalen Zeitalters – verbindet sich das Fotografieren mit der Sehnsucht, den Moment einzufrieren, ihn konservierbar zu machen, ihn weiterhin erleben zu können“, fasst er seine Überlegungen zusammen.
Von der Werbung zum Theater
Marcel Urlaub, der auch für die visuelle Umsetzung der Werbekampagnen des Volkstheaters mitverantwortlich ist und damit das Bild des Hauses nach außen maßgeblich mitgeprägt hat, weist darauf hin, wie oft Goethe in seinem Text über Licht und Dunkelheit spricht. „Auch seine Angaben zur Beleuchtung sind detailliert – ein Großteil des Stücks findet in Dunkelheit und tiefer Nacht statt, und aus der Dunkelheit heraus erscheinen dann Blitze, Irrlichter, Sonnenaufgänge“, fügt Kay Voges hinzu. Er ergänzt: „Theater und Fotografie sind zwei Kunstformen, die sich immer und immer wieder der Vergänglichkeit stellen müssen – der Unwiederholbarkeit des einen Augenblicks. Gerade im Flüchtigen. Im Plötzlichen, im Momenthaften finden sie immer wieder zu sich selbst.“
Theater und Fotografie sind zwei Kunstformen, die sich immer wieder der Vergänglichkeit stellen müssen.
Kay Voges, Regisseur und Intendant
Mit und durch Marcel Urlaubs live entstehende Arbeiten möchte der Regisseur und Volkstheater-Intendant herausfinden, welche Bilder wir uns von „Faust“ machen. Das gemeinsame Inszenieren von Bildern und Szenen eines Regisseurs und eines Fotografen ist das Besondere an dieser Produktion. Das Arbeiten im Kollektiv mit dem gesamten Ensemble eröffnet neue Möglichkeiten und Denkweisen. Daran fasziniert Marcel Urlaub unter anderem, wie tief die Suche geht. „Wenn man sich auf solch tiefgreifende Weise mit einem Text beschäftigt, ergeben viele Dinge, die vorher noch im Dunkeln lagen, plötzlich Sinn“, erklärt der gebürtige Hamburger. Über das Schauspiel Dortmund kam der zuvor vor allem in der Werbung tätige Fotograf zum Theater. „Kay und ich haben uns in Dortmund kennengelernt, und es war sofort eine beidseitige Faszination da“, erinnert er sich. „Uns verbindet, dass wir in der Fotografie beide sehr viel mehr sehen als ‚nur‘ das Drücken des Auslösers.“
In Bildern denken
Immer wenn er fotografiert, fällt er in eine Art Rauschzustand, erzählt Marcel Urlaub, und schnell wird klar, dass hier jemand am Werk ist, der für seinen Beruf brennt. An der Arbeit im Volkstheater, wo er neben den Kampagnen auch in der Theaterfotografie neue Maßstäbe gesetzt hat, begeistert ihn neben vielen anderen Dingen auch, wie frei und künstlerisch er arbeiten kann. „Ich denke, dass ich genau das immer wollte, es aber selbst nicht so richtig wusste“, resümiert er. Ob er sich denn ein Stück ansehen kann, ohne dabei in Fotos zu denken? „Nein, denn ich denke immer visuell. Auch wenn mir jemand eine Geschichte erzählt, habe ich sofort Bilder im Kopf“, antwortet er lachend. Dinge festzuhalten, an denen andere Menschen vorbeigehen, ohne sie wahrzunehmen, hat ihn an der Fotografie immer am allermeisten fasziniert, ergänzt Marcel Urlaub nach einer kurzen Pause. Darüber, welche Rolle dieser Zugang bei „Faust“ spielen wird, soll an dieser Stelle aber noch nicht zu viel verraten werden. Eines steht aber bereits fest: In diesem Licht hat man Goethes tragische Titelfigur bislang noch nicht gesehen.