Präsentiert wurden die für den Wettbewerb nominierten Stücke von Björn Hayer und Franz Wille. Hayer stellte die Kinderstücke vor – „fünf politisch und textlich hochambitionierte Texte". Thematisch ziehe sich, so der Kritiker, Identität als einer der wichtigsten Themenschwerpunkte durch, außerdem gehe es in vielen Stücken um gesellschaftlichen Zusammenhalt. In diesem Zusammenhang stünden u.a. folgende Fragen im Vordergrund: Wie finden wir Hoffnung? Wie gehen wir mit Einsamkeit um?

Anzeige
Anzeige

Überzeugen konnte unter anderem Marion Brasch mit ihrem Stück „Winterkind und Herr Jemineh", ein poetischer Abenteuertrip, der erahnen lässt, wie unendlich vielfältig die Welt ist. Dora Schneider, Regisseurin und Mitglied der Jury, schreibt: „Marion Brasch bricht durch ihre liebevollen und feinsinnigen Charakterzeichnungen mit Stereotypen und regt dazu an, die Welt einmal anders und in ihrer Vielfalt zu betrachten." Ebenfalls nominiert ist „Dunkelschwarz“ von Iona Daniel – ein Text, in dem die Autorin alle möglichen Arten von Dunkelheiten beschwört. „Ein Text, der das Dunkel ausleuchtet und dabei seine eigene poetische Welt erschafft“, schreibt Jury-Mitglied Theresia Walser.

Thomas Freyers „Geschichten vom Aufstehen“ für alle ab 6 zeigt einen „Reigen aus Figuren, die mit sich und anderen ringen, die alltägliche Abgründe umschiffen und dabei eine tröstliche Komik entfachen.“ „Troja! Blinde Passagiere im trojanischen Pferd“ ist ein Stück von Henner Kallmayer und zeigt, wie im Inneren des trojanischen Pferdes eine zunächst vorsichtige Freundschaft entsteht. Im Modus des Spiels gelingt es den beiden jungen Hauptfiguren, die vermeintlich unüberwindbare Trennung zwischen ihren Völkern zu durchbrechen. „südpol.windstill“, geschrieben von Armela Madreiter, komplettiert die Auswahl der besten, im vergangenen Jahr uraufgeführten Kinderstücke. Darum geht es: Um mit ihrer alkoholkranken Mutter zurechtzukommen, machen Ida und ihr imaginärer Freund, der Polarforscher Scott, sie zum gemeinsamen Forschungsprojekt: Aufgeteilt in eine Nordpol- und eine Südpolmutter werden die widersprüchlichen Verhaltensmuster dokumentiert und ausgewertet.

Mülheimer Theatertage
„Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert" inszeniert von Marie Bues am Schauspiel Hannover.

Foto: Kerstin Schomburg

Dramatikpreis

Franz Wille, Redakteur bei „Theater heute“, stellte die Nominierten für den Dramatikpreis vor und wies darauf hin, dass die Jury im Rahmen dieser Ausgabe der Theatertage aus einer besonders reichen Auswahl aus insgesamt 200 Stücken auswählen konnte. Es hätte viel mehr gute Stücke gegeben, als jene, die es letztlich in die Auswahl geschafft haben, so Wille. Die Jury hätte es zudem auch diesmal wieder mit einer Vielfalt dramatischer Formen zu tun gehabt, hält der Kulturjournalist fest. Inhaltlich gibt es einige klar erkennbare Schwerpunkte, zu denen unter anderem die deutlich sichtbare Zuspitzung von Konfliktlagen gehört. Außerdem werden in den Texten Bruchstellen zwischen Generationen und sozialen Gruppen thematisiert, wie auch das Zerbrechen von lange beschworenen Vorstellungen.

Als erstes Stück erwähnt Franz Wille „Baracke“ von Rainald Goetz, das in der Uraufführung von Claudia Bossard nach Mülheim kommt. „Ein entzündliches Texthybrid aus der deutschen Familienhölle, geschrieben im Goetz-Sound fiebriger Highendverbalität", schreibt Jury-Mitglied Christine Dössel. Ein anderes nach Mülheim eingeladenes Stück ist „The Silence“ von Falk Richter, das auch von ihm uraufgeführt wurde. „Wer sich je gefragt, warum es in westdeutschen Nachkriegsfamilien so angestrengt normal zuging, warum so schweigsam, so gefühlskalt, dem kann kaum Aufregenderes, kaum Aufrichtigeres begegnen als The Silence von Falk Richter“, schreibt Stephan Reuter in seiner Jury-Begründung.

Anzeige
Anzeige

Ebenfalls im Wettbewerb: „Juices“ von Ewe Benbenek, ein Sprachgedankenstrom, der in einer Wutrede mündet – in der der BRD „die Rechnung für ihren Hochmut und ihren Selbstbetrug, man hätte alles aus eigener Kraft erreicht, präsentiert wird“, wie Wille schreibt. Sivan Ben Yishais „Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert“ ist gewitztes Metadrama, klassismuskritischer Klassikerkommentar und kluge Kanonbefragung zugleich. „Die emanzipatorische Handlung von Ibsens Original spielt kaum eine Rolle, Ben Yishai interessiert sich mehr für theaterimmanente Unterdrückungsmechanismen und rückt die Nebenfiguren in den Vordergrund“, heißt es in der Jury-Begründung. Uraufgeführt wurde das Stück von Marie Bues am Schauspiel Hannover. Felicia Zeller hat mit „Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt“ ein Stück über sechs Protagonistinnen geschrieben, die Zuflucht in einem Frauenhaus gefunden haben. Auf der Grundlage von Interviews zeigt die Dramatikerin nicht nur in hochkomplexer Weise weibliche Gewalterfahrungen quer durch alle Altersgruppen, sozialen Schichten und Milieus auf.

Die letzten beiden nominierten Stücke stammen aus dem Themenkosmos der griechischen Mythologie, sind jedoch nicht ausschließlich dort verhaftet. Thomas Köcks „forecast:ödipus – living on a damaged planet", technoid und trashig uraufgeführt von Stefan Pucher, arbeitet sich an der Ödipus-Tragödie ab und ist – wie Wolfgang Kralicek schreibt – „ein süffisant satirischer, durch und durch sprachmusikalischer Sophokles-Remix.“ Der letzte Text im Bunde: Roland Schimmelpfennigs „Laios“ ist Teil eines großen Antikenzyklus in der Regie von Karin Beier am Hamburger Schauspielhaus. „Er schickt eine Erzählstimme in die Spur, die Hypothesen durchspielt und verwirft, Gedanken wieder und wieder überschreibt und mit ihrem bestechenden Arsenal fiktionaler Mittel aus der Antike heraus en passant eine ganze Weltgeschichte skizziert", so Christine Wahl. Lina Beckmanns furiose Solo-Performance wurde auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Thomas Köck

„We are fucked wie nie zuvor“

Müsste er perfekte Produkte abliefern, würde er schreiend davonlaufen, sagt Thomas Köck. Lieber betrachtet er seine Texte als verformbare Rohstoffe. Um einen solchen geht es auch in seinem Stück „solastalgia“. Weiterlesen...

Die Theatertage

Seit 1976 werden im Rahmen der Mülheimer Theatertage werden sieben bis acht Stücke in der wirksamsten Aufführung, meist der Uraufführung, gezeigt. Die Auswahl trifft ein unabhängiges Gremium aus den in der jeweiligen Saison uraufgeführten deutschsprachigen Stücken. Am Ende des Festivals vergibt eine Jury aus Kritiker*innen und Theaterschaffenden den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikpreis an den besten Autor oder die beste Autorin.

2007 riefen die Mülheimer Theatertage ein Festival für Kinder ins Leben, die „KinderStücke“. Als Wettbewerb findet es seit 2010 statt. Ein eigenes Auswahlgremium wählt fünf Stücke für Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren aus, eine eigene Preisjury vergibt den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer KinderStückePreis an den Autor oder die Autorin des besten deutschsprachigen Kinderstücks. Im Zentrum stehen in Mülheim die Stücktexte, nicht deren Inszenierung. Die Konzentration auf den Text macht das Festival einzigartig.