Einnehmende Präsenz. In der Vorbereitung auf ein Gespräch mit einem Künstler, den man noch nie getroffen hat, versucht man meist, über Dritte an Informationen zu gelangen. „Freundlich, überhaupt nicht egozentrisch und sehr entspannt“, lautet die beruhigende Auskunft eines Insiders in Bezug auf Andrè Schuen. Im Café Sperl, das der großgewachsene Bariton als Ort des Interviews ausgewählt hat, damit konfrontiert, lacht er zunächst, ehe er zur dreiteiligen Antwort ansetzt. „Ich versuche zumindest, freundlich zu sein, und finde das auch wichtig, weil ich selber Menschen, die darauf weniger Wert legen, oft als unangenehm empfinde. Entspannt auch, wobei ich nach außen möglicherweise gelöster wirke, als ich es tatsächlich bin. Und egozentrisch bin ich nach eigener Einschätzung wirklich nicht. Ich bin auch nicht der Ansicht, dass man als Künstler egozentrisch sein muss, um auf der Karriereleiter weiter nach oben zu kommen. Was einen wirklich weiterbringt, ist die Qualität auf der Bühne.“ 

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Andrè Schuen, geboren im 1.400 Einwohner zählenden Südtiroler Ort La Val, ist gefragter Gast an international namhaften Opernhäusern wie der Bayerischen Staatsoper, dem Royal Opera House, Covent Garden, dem Teatro Real in Madrid oder der Wiener Staatsoper, wo er heuer in Barrie Koskys Neuinszenierung von „Le nozze di Figaro“ einen schillernden Almaviva gab. Beim Festival d’Aix-en-Provence sang er 2021 den Figaro und im selben Jahr bei den Salzburger Festspielen Guglielmo in „Cosi fan tutte“. Mit dem Heerrufer in „Lohengrin“ Ende 2022 an der Bayerischen Staatsoper und dem Wolfram in „Tannhäuser“ an der Berliner Staatsoper wenige Monate später gab er seinen Wagner-Einstand und wurde in beiden Produktionen von Kritik und Publikum enthusiastisch bejubelt. 

Der Inhalt der Oper

Nun ist er in der Stadt, um im MusikTheater an der Wien unter der Regie von Tobias Kratzer die Titelrolle in „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ zu singen. Auch das ein Debüt für ihn. In Jaromír Weinbergers 1927 in Prag uraufgeführter Volksoper mit märchenhaften Zügen erfährt die traute Zweisamkeit von Schwanda und seiner Frau Dorota eine schwere Prüfung, als der Räuberhauptmann Babinsky in die eheliche Idylle eindringt, um Schwanda in die weite Welt hinauszulocken. Dort begegnet er einer Eiskönigin, die ihm erst Avancen macht, ehe er gefangengenommen und zum Tod verurteilt wird. Dank seiner Dudelsackkünste kann er sich zwar freispielen, sinkt unmittelbar danach aber in die Hölle hinab, wo ihm der Teufel seine Seele abkauft. Schließlich wird er von Babinsky befreit und kehrt zu Dorota nachhause zurück. Max Brod übersetzte das Werk, sodass es im deutschsprachigen Raum langfristig erfolgreicher war als in Tschechien – ein großer Wurf wurde es allerdings nie. Umso interessanter, dass es in den letzten Jahren eine Renaissance erlebte und vor nicht allzu langer Zeit in Dresden, Graz und Berlin zur Aufführung gelangte. 

Andre Schuen
Ehepaar in emotionalen Turbulenzen: Vera-Lotte Boecker ite.

Foto: Matthias Baus

Einfacher Typ – sehr begabt

„Ich habe, als die Anfrage kam, lange überlegt, ob ich es machen soll“, erzählt Andrè Schuen. „Zum einen, weil das eine Partie ist, die für einen Bariton extrem hoch liegt und problemlos auch von einem tieferen Tenor gesungen werden könnte. Zum anderen dachte ich, man wolle das Stück in tschechischer Sprache machen, wofür ich sehr viel Zeit investieren hätte müssen.“ Die sprachlichen Bedenken konnten rasch ausgeräumt werden, und auch in Sachen Tessitura herrschte bald Klarheit.

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„Ich denke, dass ich meinen Weg damit gefunden habe. Erstaunlicherweise entwickelt sich die Stimme mit den Aufgaben mit. Je nachdem, welche Lagen man verstärkt benötigt, sind eineinhalb Töne nach oben und eineinhalb Töne nach unten durchaus möglich. Die Musik ist auch stilistisch eine Herausforderung, weil in kürzester Zeit die unterschiedlichsten Einflüsse aufeinanderfolgen. Tschechische Folklore, spätromantische Klänge, moderne Musik. Dazu komplizierte Formen. Insgesamt ist das ein sehr spannendes, spezielles Stück, wie ich es davor noch nie gehört habe.“ 

Den von ihm dargestellten Schwanda charakterisiert er so: „Er ist, und das meine ich nicht negativ, ein einfacher Typ, der aber so gut Dudelsack spielt, dass er Menschen damit verzaubern kann. Er geht mit einer gewissen Naivität an die Geschichte heran und scheint ein Mensch mit viel Glück zu sein.“ Parallelen zu sich selbst sieht Andrè Schuen am ehesten in der Botschaft der Oper: „Mit Mut hinaus in die Welt zu gehen, das eigene Talent zu genießen und für andere erlebbar zu machen, aber nicht auf seine Wurzeln zu vergessen. Das gefällt mir, und damit kann ich mich auch privat identifizieren. Natürlich geschieht bei Schwanda alles in extremer Weise, aber am Ende kommt er zurück zu seiner Frau, wodurch die Oper ein Happy End erfährt.“ 

Andre Schuen
Ester Pavlu als eisige Königin, deren erstarrtes Herz Schwanda

Foto: Matthias Baus

Vom Cello zum Lied

André Schuen wurde in eine musikalische Familie hineingeboren. „Mein Vater war Kapellmeister, hat steirische Ziehharmonika unterrichtet und spielt eine ganze Reihe an Instrumenten, meine Mutter singt gut und gerne, und meine beiden Schwestern sind ebenfalls Sängerinnen, allerdings im Pop-Bereich (beim Trio Ganes, Anm.).“ Er selber spielte Cello, sang in Männerquartetten und half in Punkbands aus. Auch Jazzgesang hätte ihn interessiert. Dass es dann doch der klassische Gesang wurde, sei eine impulsive Entscheidung gewesen.

„Meine Schwester hat mich mit Schubert-Liedern vertraut gemacht. Von diesen ging es direkt zum klassischen Gesang. Ich habe ohne irgendeine Form von Stimmbildung im Mozarteum vorgesungen und wurde von dort Lehrenden dazu ermuntert, die Aufnahmeprüfung zu absolvieren. Die meisten, die da antreten, haben eine Menge Erfahrung, manche haben sogar schon ein Studium absolviert, ich hatte nur meine Naturstimme. Ich bin bis heute dankbar dafür, dass es Professoren gab, die in meiner ungeschliffenen Stimme das Material und die Musikalität erkannt haben.“ 

Nach dem Studium und einigen Meisterkursen ging es los mit der Bariton-Karriere, die neben der Oper eben auch das von ihm so geschätzte Lied sowie eine umfangreiche Konzerttätigkeit umfasst. 

Mozart als Mentor

Andrè Schuen hat sich im Laufe von beinahe 20 Jahren ein ansehnliches Repertoire ersungen. Gibt es dennoch eine Rolle, die seine Karriere maßgeblich in die heutige Richtung gelenkt hat? „Ich denke, das passiert eher in Schritten. Bis jetzt waren das definitiv die drei Mozart-Da-Ponte-Rollen, die eigentlich vier sind, denn bei ‚Le nozze di Figaro‘ habe ich sowohl Figaro als auch Graf Almaviva gesungen. Dann eben ‚Don Giovanni‘ und auf jeden Fall Guglielmo in ‚Cosi fan tutte‘. Das ist auch jetzt noch das Repertoire, das ich am meisten singe. Langsam komme ich ein bisschen weg davon, was auch wichtig ist. Im deutschen Repertoire war mein erster Wolfram in ‚Tannhäuser‘, den ich in der letzten Saison in Berlin gesungen habe, ganz wichtig. Wenn bemerkt wird, dass die Stimme auch zu dramatischeren Rollen passt, ist das ein Türöffner. Im Italienischen habe ich auch schon ein paar Partien gesungen, hoffe aber, dass da noch mehr kommt.“

Das mutet ein wenig befremdlich an, wenn man bedenkt, dass Andrè Schuen in La Val zur Welt kam und Italienisch neben Ladinisch und Deutsch zu seinen drei Grundsprachen zählt. „Mein Nachname klingt deutsch“, erklärt er amüsiert, „das reicht manchen schon zur Einordnung.“ 

Andre Schuen
Mondän morbid: Vera-Lotte Boecker, Andrè Schuen und der Arnold Schoenberg Chor.

Foto: Matthias Baus

Oper und Lied halten sich quantitativ bei ihm ungefähr die Waage. „Wenn ich es zusammenzähle, komme ich auf etwa 25 Opernvorstellungen und 25 Liederabende pro Jahr. Dazu noch rund 10 Konzerte.“ Das Lied sei seine persönliche Leidenschaft, weil er es auch formal so spannend fände. „Es kombiniert im Idealfall gute Lyrik mit ebensolcher Musik und hat bei einer Länge von dreieinhalb Minuten beinahe Radiotauglichkeit. Beim Lied kann ich gemeinsam mit meinem Pianisten alles selber entscheiden. Von der Zusammenstellung des Programms bis zu den Probenplänen. Das fördert eine gewisse Autonomie, die man als Opernsänger so kaum hat. Und das Ergebnis dann einem Publikum vortragen zu dürfen, das sich davon berühren lassen kann, ist für mich sehr erfüllend.“ 

Kritik im Überfluss

Sänger zu sein heißt auch, ständig und unmittelbar öffentlich beurteilt zu werden. Wie geht er damit um? „Das ist ein Thema, das uns alle beschäftigt. Wenn man mit Kollegen spricht, geben manche zu, dass es wehtut, eine schlechte Kritik zu bekommen. Andere behaupten, überhaupt keine Kritiken zu lesen. Das zu glauben fällt mir manchmal schwer, denn ich schaffe es nicht. Im Gegenteil, ich bin dazu übergegangen, wirklich alles zu lesen, was ich in die Hände bekommen kann, weil sich für mich dadurch ein Stimmungsbild ergibt. Wenn man ein breiteres Spektrum hat, das grundsätzlich positiv ist, kann man mit ein, zwei Verrissen auch leichter leben und versteht, dass Kritiken eben auch sehr subjektive Meinungen sind. Manchmal kann man einzelne Aspekte durchaus annehmen. Was mir zudem hilft, ist, dass ich im Gegenzug auch die Kritik beurteile, zum Beispiel danach, wie sie geschrieben wurde und ob sie fachlich stimmig ist. Ich würde aber insgesamt lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mich nicht mehr verletzen würde, etwas Schlechtes über mich zu lesen. Die Zeitspanne des Schmerzes ist zum Glück aber kürzer geworden.“ 

Er google sich selber auch relativ oft, um Kritiken zu finden. „Außerdem leben wir in einer Zeit, in der es wichtig ist zu wissen, was um einen herum passiert. Sowohl auf Theater- als auch auf Veranstalter-Seite. Manchmal erfährt man so auch, wann was wo ausgestrahlt wird, und kann es dann auf Social Media posten.“ 

Andre Schuen
Ein Gruppenbild, das Spannung erzeugt: Krešimir Stražanac è Schuen (Schwanda), Pavol Breslik (Babinsky), Arnold Schoenberg Chor, Statisterie.

Foto: Matthias Baus

Genuss versus Verzicht

Wenn Andrè Schuen nicht gerade singt, kocht er gern und macht viel Sport. Zu seinen bevorzugten Aktivitäten zählen Tennis, Billard, Wandern und Mountainbiken. „Ich meditiere ein bisschen und versuche zu lesen. Wobei das immer schwieriger wird, seit es Netflix & Co gibt.“ Er habe früher öfter das Gefühl gehabt, für seine Stimme auf vieles verzichten zu müssen, doch das habe sich komplett gelegt. „Seit ich vor fünf Jahren aufgehört habe zu rauchen und auch nicht mehr das Gefühl habe, dass ich wieder gerne rauchen würde, gibt es nichts mehr, was ich als Verzicht sehen könnte. Okay, ich versuche vor einer Vorstellung nicht zu spät zu essen, aber das ist ja noch keine Askese“, lacht er. „Und vielleicht nicht extrem viel Alkohol zu trinken, aber das versucht auch jeder …“ 

Dass er noch immer als „junger Bariton“ beschrieben wird, obwohl er nächstes Jahr seinen 40. Geburtstag feiert, amüsiert und erstaunt ihn. Kann man das Singen mit zunehmendem Alter eigentlich auch mehr genießen – so wie in anderen Berufen die Routine zumeist mehr Selbstsicherheit bringt? „Das hängt sehr vom Mindset ab. Ich habe schon den Eindruck, dass ich gnädiger mit mir selbst geworden bin. Perfektion ist in unserem Beruf zwar zielführend, wenn man aber zu streng mit sich selbst und von Selbstzweifeln geplagt ist, nimmt das meist kein gutes Ende. In dieser Hinsicht hilft das Reiferwerden sehr. Allerdings gibt es auch einen natürlichen physiologischen Verfall, dem wir vor allem mit guter Technik entgegenzuwirken trachten. Das merkt man vor allem bei der Regeneration. Nach einer stimmlich und körperlich fordernden Produktion sind ein bis zwei Ruhetage schon notwendig.“ 

Zu Weihnachten hat Andrè Schuen sogar Urlaub. Davor gibt er nach „Schwanda“ zum 125. Geburtstag der Deutschen Grammophon in Berlin noch ein Konzert und absolviert Liederabende in Amsterdam, Graz, Frankfurt und im Wiener Musikverein. Zu den anfänglich beschriebenen Eigenschaften des Künstlers möchte man am Ende des Gesprächs noch eine hinzufügen: erfrischend ehrlich. 

Schwanda, der Dudelsackpfeifer

Ab 18. November 2023

MuseumsQuartier / Halle E

theater-wien.at