„Es muss zeitgemäß sein – oder ich muss das Zeitgenössische darin finden.“ Andernfalls würde es sie nicht interessieren. Karin Drechsel spricht an Bord des populären Charterschiffs „MS Admiral Tegetthoff“, auf dem Interview und Fototermin aufgrund der nautischen Themennähe stattfinden, davon, welche Grundvoraussetzungen ein Stück zwingend zu erfüllen hat, um ihre Aufmerksamkeit als Regisseurin zu wecken.

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„Die wichtigste Zuschauergruppe im Moment sind für mich die Kinder. Denn sie haben seit Corona am meisten gelitten und müssen sich nun anhören, dass die Welt ohnehin bald untergeht und wir alle in einer Katastrophe enden. Wie sollen sie diesen Nihilismus denn aushalten und an eine Zukunft glauben, geschweige denn eine solche mitgestalten? Sie brauchen gute Geschichten, die sie für eine komplexe Gegenwart stärken.“

Und eine solche sei zweifellos „Siri und die Eismeerpiraten“, die Karin Drechsel aktuell im Theater der Jugend auf die Bühne bringt. Basierend auf dem Bestseller der schwedischen Autorin Frida Nilsson, schrieb sie eine Bühnenfassung. Der gefürchtete Piratenkönig Weißhaupt raubt im großen Stil Kinder, um sie in seinen Kohlegruben schuften zu lassen. Er hat eine Maschine erfunden, mit deren Hilfe er aus Kohle Diamanten gewinnen kann, und braucht für die engen Schächte unter Tage Kinder als Arbeitssklaven. Siris jüngere Schwester Miki fällt ebenfalls in die Hände des skrupellosen Ausbeuters – und zwar deshalb, weil Siri nicht gut genug auf sie aufgepasst hat. Siri fühlt sich ob ihrer Unachtsamkeit schuldig und wagt, was vor ihr noch niemand in Betracht gezogen hat: der allerorts resignativen Stimmung zu trotzen und allein über das Nordmeer zu fahren, um Miki zu befreien.

„Sie ist weniger mutig als vielmehr verantwortungsbewusst. Der Mut kommt bei ihr mit den jeweiligen Aufgaben, wobei sie sehr naiv an die Sache herangeht und dabei auch immer wieder an ihre Grenzen stößt. Man kann ihr dabei zusehen, wie sie ihre resilienten Kräfte entdeckt und lernt, dass es manchmal sinnvoller ist, nicht die ganze Wahrheit zu erzählen und anderen auch zu misstrauen. Gleichzeitig trägt sie eine große Herzlichkeit in sich und verliert nie den Blick auf die Menschen. Das Schöne an dieser Geschichte ist auch, dass sie nicht linear verläuft.“

Karin Drechsel Siri und die Eismeerpiraten
Kommandobrücke. An Bord der „MS Admiral Tegetthoff“ durfte die Regisseurin fotogen auch ans Steuerrad.

Foto: Christoph Liebentritt

Siri for Future

Für Karin Drechsel ist das „endlich eine andere Mädchengeschichte, die man so noch nicht gesehen hat“. Ein Stationendrama inmitten einer sehr nordischen Landschaft, die die äußere und innere Kälte symbolisiert.

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„Sie setzt dem Nihilismus ihre Hilfsbereitschaft entgegen, und das ist weder kindlich noch romantisch, sondern konkret gelebte Zuwendung. Die Kinder in der Kohlegrube sind richtig garstig zueinander, doch Siri rettet sie ohne Rachegedanken, weil sie davon überzeugt ist, dass niemand gezwungen sein sollte, so zu leben. Sie ist ein bisschen wie Greta Thunberg, die anfangs auch allein mit einem Schild vor ihrer Schule saß und zum Klimastreik aufrief. Es hat eine Zeit lang gedauert, ehe sich ihr jemand angeschlossen hat und die Bewegung Fridays for Future daraus geworden ist. Siri vertraut sich selber und ist überzeugt davon, dass sie eine Wirkungsmacht hat. Das ist auch eine Kernbotschaft des Stücks: sich selber kennenzulernen und darauf zu bauen, zur richtigen Zeit das Richtige zu tun.“

Keine Zeigefingergeschichten

Dass Frida Nilsson medial gerne mit Astrid Lindgren verglichen wird, findet Karin Drechsel schwierig. „Es gab schon eine Astrid Lindgren, man braucht keine zweite. Warum nicht einfach die erste Frida Nilsson sein? Sie schreibt keine konstruiert wirkenden pädagogischen Zeigefingergeschichten, und das ist wohl auch Teil ihres Erfolgs. Ich finde, dass ihre Qualität dann besonders zum Vorschein kommt, wenn es in den fantastischen Bereich geht. Man möchte sich mit ihren Büchern in eine andere Welt hineinverkriechen.“

Ich erlebe, dass der Mensch im näheren Umfeld eher hilfsbereit, zugewandt und sozial ist, wenn man ihm das Menschsein nicht abspricht.

Karin Drechsel, Regisseurin

Es ist lediglich ein Zufall, dass Hauptdarstellerin Runa Schymanski Halbschwedin ist. „Das hat sich erst beim Casting herausgestellt“, so Karin Drechsel. „Ich habe vordergründig nach einer Schauspielerin gesucht, die eine angenehm-einnehmende Präsenz hat und eine warmherzige Ausstrahlung mitbringt.“ Am Theater der Jugend arbeite sie sehr gerne, weil dieses über wertschätzende Mitarbeiter*innen in allen Abteilungen verfüge und ihr der rege inhaltliche Austausch mit Direktor Thomas Birkmeir entgegenkomme.

„Wer mich engagiert, kennt mein Interesse an einer Anbindung an die Gegenwart und meinen persönlichen Stil. Ich versuche immer, teamorientiert und transparent zu arbeiten. Natürlich übernehme ich die Verantwortung, und dennoch kann ich alle miteinbeziehen und befragen. Wenn ich mich selber als unfehlbar installiere, kann ich, wenn ich wirklich einmal nicht mehr weiterweiß, schwer wieder aus dieser Rolle aussteigen. Das ist, ehrlich gesagt, ziemlich blöd, weil man dann einsam verhungert. Mir macht das keinen Spaß, denn ich will, dass die Menschen um mich herum Freude haben an dem, was sie tun, und auch zeigen können, was in ihnen steckt.“

Zur Person: Karin Drechsel

studierte Schauspiel und Regie an der Otto Falckenberg Schule in München, war Regieassistentin am Thalia Theater in Hamburg, wo sie u.a. mit Robert Wilson zusammenarbeitete, und ist seit 1991 als freischaffende Regisseurin tätig. Daneben unterrichtete sie Schauspiel und Regie am Mozarteum Salzburg, an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt sowie an der Folkwang Universität der Künste in Bochum. Sie lebt in Hamburg.

Ist die Welt noch zu retten?

Jemand, dem es so wichtig ist, dass am Theater zeitgenössisch relevante Themen abgehandelt werden, wie Karin Drechsel, ist wohl auch auf die nächste Frage vorbereitet. Ist die Welt – angesichts von Kriegen, Klimakatastrophen, einem beinahe weltweiten politischen Rechtsruck und der Gefahr von gezielt eingesetzten Falschinformationen – überhaupt noch zu retten?

Die Antwort kommt rasch und fällt leidenschaftlich aus. „Ja. Ich gebe zu, dass ich in der Woche nach dem 7. Oktober (Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel, Anm.) in eine Art Schockstarre verfallen bin. Denn meine große Hoffnung war, dass eine neue Generation von Israelis und Palästinensern diesen Hass überwinden können würde. Und das, was dann passiert ist, war so barbarisch, so voller alttestamentarischer Wut. Trotzdem kann ich meinen Glauben nicht aufgeben und erlebe auch jetzt, dass der Mensch im näheren Umfeld eher hilfsbereit, zugewandt und sozial ist, wenn man ihm das Menschsein nicht abspricht.“

Sie setzt fort: „Natürlich gibt es das Paradoxon, dass wir alle wissen, dass der CO2-Ausstoß massiv verringert werden muss – und trotzdem wurde im letzten Jahr die höchste Zahl an Neuzulassungen bei SUVs verzeichnet. Das verstehe ich nicht. Zugleich sehe ich aber auch, wie sehr viele Menschen daran arbeiten, diese Welt besser zu machen. Das betrifft nicht nur Forschung und Wissenschaft, und ich vertraue darauf, dass Vernunft sich vermehren lässt.“

Mitunter denke sie, in einer Algorithmusschleife zu hängen, die uns täglich nur die schlechtesten Nachrichten präsentiert, die sich dann perpetuierten. „Manchmal wünsche ich mir wieder eine Aktion wie jene der Gruppe The Yes Men, die 2008 eine gefakte Ausgabe der ‚New York Times‘ mit ausschließlich positiven Artikeln herausgegeben hat.“

Siri und die Eismeerpiraten
Hafenflair in Wien. Die „MS Admiral Tegetthoff“ nicht am Nordmeer, sondern in abendlicher Festbeleuchtung vor der beeindruckenden Skyline der Stadt.

Foto: DDSG Blue Danube Dieter Lampl

Plädoyer für das Menschsein

Anlässlich des Hamas-Angriffs habe sie auch des Öfteren an den Anschlag auf den Pariser Konzertsaal Bataclan 2015 denken müssen, bei dem 89 Menschen starben. „Da gab es den Familienvater Antoine Leiris, der seine Frau verlor und plötzlich allein mit einem dreijährigen Kind dastand. Er schrieb daraufhin ein Buch mit dem Titel ‚Meinen Hass bekommt ihr nicht‘. Egal, was passieren mag, ich will nicht zulassen, dass man uns dehumanisiert. Im Gegenteil: Jetzt erst recht müssen wir daran erinnern, dass es um Menschen geht. Ich will dieses Leiden nicht, ich halte es nicht aus. Und so geht es vielen anderen auch – ich bin da sicherlich nicht solitär, wir müssen uns besser miteinander verbinden.“

Auch wenn es nach Corona schwieriger geworden sei, Gleichgesinnte zu finden, müsse man sich mehr hinaustrauen. „Das ist, so glaube ich, auch eine Aufforderung von Siri an uns alle: dass wir für unsere Werte einstehen. Sie sagt an einer Stelle auch ganz klar: ‚Ich will glauben, dass eine Welt ohne Angst und Gewalt möglich ist, und ich will alles dafür tun, dass Menschen und Tiere leben können, ohne versklavt zu werden.‘ Das ist ihr Credo.“ Und dem schließt sich die engagierte Regisseurin Karin Drechsel uneingeschränkt an.

Zu den Spielterminen von „Siri und die Eismeerpiraten“ im Renaissancetheater