Es ist einfach wohltuend beruhigend, dass Kunst die Menschen noch so herrlich erregen kann, denkt man nach der Lektüre der Kritiken von Verdis „Don Carlo“ in der Regie des russischen Exilkünstlers Kirill Serebrennikov an der Staatsoper in seinem Ohrensessel.

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Buh-Orkane, schon während der Vorstellung, sodass Dirigent Philippe Jordan als elegant-verzweifeltes Gesuch um Gnade an das Publikum ein weißes Taschentuch als Friedensfahne schwenkte. Tenor der Entsetzenstiraden: Der Plot der Verdi-Oper sei bis zur Unkenntlichkeit entstellt und habe so gar nichts mehr mit der Vorlage zu tun. Herrschaften, Scharfrichter, Kunstverrückte! Das ist doch wirklich nichts Neues unter der Sonne. Gepflegte Stückezertrümmerung und bis zur Unkenntlichkeit entstellender Wiederaufbau gehören am Theater schon längst zum Repertoire.

Der australisch-schweizerische Regisseur Simon Stone hat mit textlichen Modernisierungsgewürzen aus Ibsen, Strindberg oder Tschechow brennend Zeitgenössisches gemacht, und viele Epigonen sind ihm (oft etwas zu bemüht) gefolgt. Ein Virtuose dieses Reanimierungsfachs ist auch Moritz Franz Beichl, dessen „MfG, Ödipus“-Variante der freudschen Antik-Soap im Nischenjuwel Bronski & Grünberg im Neunten (dort zelebrierte er auch schon seine „Effi Briest“-Adaption) gegenwärtig neue Perspektiven auf alte Muttergefühle eröffnet.

Kommen wir zurück zum Buh-Exzess in der Oper. Es herrscht meiner Meinung nach nahezu eine moralische Verpflichtung, originäre Künstler wie Serebrennikov, die in ihrer kreativen Radikalität mit einer Fallhöhe zu rechnen hatten, die weit über ein paar Buh-Orkane aus champagnergeölten Kehlen hinausgeht, zu verpflichten. Der im Exil gestrandete Mann stand unter Hausarrest, war unter Putins eiserner Kralle abgeräumt und eliminiert worden und inszenierte einst aus der Eiseskälte der Isolation auch schon einmal nur via Zoom die Revolutions-Ekstase und das Gattungs-Crossover „Barocco“. Willkommen in Wien, kommen Sie ruhig öfter! Und alle, die aus Órbanistan, der Slowakei und unter dem Qualitätsprädikat der Nestbeschmutzung aus dem Kulturbetrieb bugsiert und kaltgestellt worden sind, sollen ebenfalls üppiges kreatives Asyl bekommen.

Abgesehen davon: Früher war Oper Jahrmarkt,

Hysterie und Wutausbrüche. Im 19. Jahrhundert wurde gegrölt, aus den Sitzen gesprungen, herumgegangen, geraucht und mit Nüssen geworfen, wenn ein Publikumsliebling an einer Gaumenzäpfchenprellung laborierte oder der Inhalt an den gesellschaftlichen Verankerungen rüttelte oder politische Systeme infrage stellte. Wir werden seit dem Wahlsonntag ohnehin viel mehr Kunst brauchen, die an dem Gedankengebäude „Festung Europa“ rüttelt, und an dieser Stelle sei des Festwochen-Intendanten Milo Raus großartiger Kommentar im britischen „Guardian“ empfohlen, der mit den Worten endet: „Natürlich besitzen wir keine Schwerter, keine Schutzschilde, aber den Botschaftern des Rechtsextremismus rufe ich zu: Unsere Waffen sind unsere Theater, Museen (...) unsere Erinnerungen und unsere Hoffnungen.“

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Und Erinnerungen brennen sich meist dann ins Gedächtnis ein, wenn sie nicht wohltemperiert und entsprechend langweilig sind.

Deswegen: Vivat Buh! Begeisterungsschreie beim Applaus dürfen einem natürlich in Zukunft auch nicht zu blöd sein. Hauptsache, es brodelt. Alles andere ist primär, hätte unser Hansi Krankl dazu noch anzumerken gewusst.