Lotfullah & die Staatsbürgerschaft: „Kafka ist ein Lercherlschas dagegen“
Vor fast zehn Jahren stand Lotfullah Yusufi zum ersten Mal im Vestibül des Burgtheaters auf der Bühne. Nun kehrt er mit seiner eigenen Geschichte genau dorthin zurück – um mit viel Humor vom Durchhalten in einem undurchschaubaren System zu erzählen.

Foto: Andreas Jakwerth
Sie musste nicht danach suchen, denn die Geschichte war einfach da, sagt Theatermacherin Anna Manzano. Sie hat sich, wenn man so möchte, förmlich aufgedrängt. Im besten Sinne des Wortes. Als „brennend“ wird die Regisseurin und Theaterpädagogin die besagte Geschichte etwas später im Interview noch bezeichnen. Wir sitzen im Vestibül des Burgtheaters, und rasch ist klar: Lotfullah Yusufi, der hier schon bald von seinen Erlebnissen und Erfahrungen erzählen wird, ist alles andere als aufdringlich, sondern offen, humorvoll und nachdenklich.
Gesucht und gefunden haben sich Anna Manzano und Lotfullah Yusufi im Übrigen vor fast zehn Jahren. Nur wenige Monate nach seiner Flucht aus Afghanistan begann der damals Fünfzehnjährige regelmäßig an Workshops des Theaterklubs „Offene Burg“ teilzunehmen und in Inszenierungen mitzuspielen. Er lernte Anna Manzano, Marie Theissing und Magdalena Knor kennen und gehörte – nach dem Ende der Offenen Burg – auch zu ihrer freien Theatergruppe, mit der sie unter anderem beim Hin & Weg Festival in Litschau zu Gast waren.
„In den Proben, die immer mittwochs am Lusterboden stattfanden, konnte ich alles vergessen. Für drei Stunden habe ich wirklich nur im Moment gelebt“, erinnert sich Yusufi. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Außerdem hat es einfach immer großen Spaß gemacht.“
Eine Aussage, die einmal mehr bestätigt, dass eine der wichtigsten Qualitäten des Theaters darin liegt, den Moment – in all seiner Unreproduzierbarkeit – abzufeiern. Auch der berühmte Theaterregisseur Luc Bondy bezeichnete das Theater als „Fest des Augenblicks“.
Die Realität überholt die Fiktion
In „Lotfullah & die Staatsbürgerschaft“ erzählt Lotfullah Yusufi nun seine Geschichte – und zwar wieder im Vestibül, wo seine Liebe zum Theater einst ihren Anfang nahm. Ein sogenannter Full- Circle-Moment. Und auch eine große Aufgabe, wie er hinzufügt. „Natürlich macht es Spaß, aber ich spüre auch die Verantwortung auf meinen Schultern. Es gibt Momente, die wehtun, trotzdem stellt sich manchmal auch ein Gefühl von Zufriedenheit ein. Unter anderem deshalb, weil es mir einfach sehr wichtig ist, dass die Menschen von dieser Geschichte erfahren.“
Worum es geht, ist zu verstrickt und zu absurd, um es in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Im Grunde ist „Lotfullah & die Staatsbürgerschaft“ eine kafkaeske Erzählung über Bürokratie und die Macht von Institutionen, die aber auch aufzeigt, welch großes Privileg es ist, eine österreichische Staatsbürgerschaft zu besitzen.„Ich denke mir immer: Kafkas ‚Schloss‘ ist ein Lercherlschas dagegen“, erklärt Anna Manzano lachend, „denn die Dinge, die Lotfullah im Laufe dieser Zeit passiert sind, sind teilweise verworrener und abstruser, als man sich das je ausdenken könnte.“

Foto: Andreas Jakwerth
Die Grundlage für die Fassung, an der auch die Musikerin Marie Theissing und die Ausstatterin Magdalena Knor mitarbeiten, bilden transkribierte Interviews mit Lotfullah wie auch Dokumente, die er über all die Jahre angesammelt hat. „Ich weiß nicht genau, warum, aber ich habe alles aufgehoben“, merkt er an. Marie Theissing war es auch, mit der Lotfullah Yusufi 2022 die allererste Skizze der Geschichte entwickelte.
Der Staatsbürgerchor
Darüber hinaus hatte Anna Manzano die Idee, ihrem Schauspieler und – wie sie es augenzwinkernd formuliert – „Quellmaterial“ einen Chor, den „Staatsbürgerchor“, an die Seite zu stellen. „Diese Idee ist ganz intuitiv entstanden“, erinnert sie sich. „Mir kam es falsch vor, Lotfullah ganz alleine auf diese Bühne zu schicken. Ich wollte, dass er Verbündete hat. Darüber hinaus habe ich mir die Frage gestellt, warum immer nur geflüchtete Menschen über das Thema Flucht sprechen sollen. Die Themen, die in diesem Stück verhandelt werden, gehen uns alle an. Deshalb war es mir wichtig, dass Menschen, die das Privileg einer österreichischen Staatsbürgerschaft besitzen, darüber sprechen – ihre Zeit und ihre Körper zur Verfügung stellen.“
Der Chor, der nicht nur spricht, sondern auch singt, besteht aus Laien, die auch in den Entstehungsprozess der Fassung eingebunden sind. „Es gibt einige Dinge, die im Stück vorkommen, die auf Gesprächen zwischen den Menschen im Chor und Lotfullah basieren“, so Manzano.
Ein wilder Ritt
Bis jetzt sei die Probenarbeit „ein ziemlich wilder Ritt“, fügt sie hinzu und blickt lachend in Richtung ihres Kollegen. Oder auch: „Ein Teig, der so lange geknetet wird, bis sich daraus ein Stück formt.“ Vieles wird ausprobiert, einiges auch wie- der verworfen, bringt es Anna Manzano auf den Punkt. Sie setzt nach: „Eine echte Geschichte zu erzählen, der man ja auch gerecht werden möchte, ist schon heavy. Was wir hier tun, ist harte Arbeit.“
Lotfullah Yusufi nickt. Die Absurdität des Prozesses und seiner Einzelteile hätte er, während er mittendrin steckte, eigentlich gar nicht so richtig mitbekommen, fügt er hinzu. „In den Momenten, in denen all diese Dinge passiert sind, war es einfach nur zermürbend, verwirrend und belastend.“
Die Dinge, die Lotfullah passiert sind, sind verworrener und absurder, als man sich das je ausdenken könnte.
Anna Manzano, Regisseurin
Eine prägende Erinnerung schießt ihm in diesem Zusammenhang sofort in den Kopf: Nach seinem Pflichtschulabschluss besuchte er die HTL Mödling, wurde aber in der Nähe von Mariazell, in Laubenbachmühle, untergebracht. Eineinhalb Jahre lang hielt er die kräftezehrende Pendelei mit dem Zug aus. „Es lag nicht in meiner Hand“, sagt Yusufi, der mittlerweile in Wien wohnt.
Auch Anna Manzano fällt eine Situation ein: „Als die Taliban in Afghanistan einmarschierten, waren wir gerade auf einem Theaterfestival. Ich erinnere mich, dass Lotfullah über einem Dokument saß, in dem er argumentieren musste, warum er nicht nach Afghanistan zurückkehren möchte.“
Zur kafkaesken Absurdität mischt sich schnell ein trauriges Kopfschütteln. Genau diese Balance versuchen sie gerade zu finden, erklärt die Regisseurin. „Es ist eine Gratwanderung. Was wir bis jetzt entwickelt haben, ist möglicherweise zu lustig. Das ist aber in Ordnung, weil wir nun in etwas eintauchen, wo der Spaß aufhört. Wir dürfen es dem Publikum nicht ersparen, irgendwann zu realisieren, dass das alles wirklich passiert ist. Und dass solche Dinge weiterhin jeden Tag passieren.“
Aufgeben? Fehlanzeige
Gegen Ende von Kafkas berühmtem Roman „Das Schloss“ wird der Protagonist K. zusehends von einem Gefühl der Ohnmacht übermannt. Er droht an der Undurchschaubarkeit des Systems, in dem er sich befindet, zu scheitern. Letzteres kommt für Lotfullah Yusufi höchstens im Kontext der Theaterproben infrage. Schließlich gehört das Scheitern ja irgendwie zum Theatermachen dazu.
„Wieder versuchen, wieder scheitern, besser scheitern“, schrieb beispielsweise der große Theaterautor Samuel Beckett.
Geht es hingegen darum, sich ausdauernd und mit einer großen Portion Humor im Gepäck durch das mindestens ebenso undurchschaubare österreichische Behördensystem zu bewegen, ist dem 25-Jährigen alles zuzutrauen. Aufgeben? Bestimmt nicht. Ausdrucken müsste er allerdings noch etwas, sagt er zu Anna Manzano, als sich unsere Wege wieder trennen. Und danach? Geht der wilde – und gleichzeitig von viel Vertrauen geprägte – Ritt wieder weiter.