Zwölf zeitgenössische Theaterautor*innen, die man sich merken sollte
Zwar werden vor allem die Spielpläne großer Staats- und Stadttheater nach wie vor von klassischen Stücken dominiert, doch die Stimmen zeitgenössischer Autor*innen werden immer lauter.
Caren Jeß
Lebt in Dresden und studierte Deutsche Philologie und Neuere deutsche Literatur in Freiburg und Berlin. Ihre erste Theaterarbeit, „Deine Mutter oder Der Schrei der Möwe“ brachte ihr gleich den dritten Platz beim Osnabrücker Dramatikerpreis 2017 ein. Mit ihrem Stück „Bookpink“ gewann sie 2018 die Residency des Münchner Förderpreises für deutschsprachige Dramatik. Mit der Grazer Uraufführungsinszenierung von „Bookpink“ wurde sie 2020 für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und in der Kritiker*innenumfrage von Theater Heute zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gewählt.
In Wien war zuletzt ihr Stück „Knechte“ im Kosmos Theater zu sehen. Ihre Theatertexte sind rhythmisch, temporeich, oft komisch, manchmal rätselhaft. Inhaltlich geht es unter anderem um Härte, sozialen Abstieg, kriminelle Wege, brutale Ausbrüche, toxische Männlichkeit und immer wieder auch um Tiere. Warum ihr das wichtig ist? Vielleicht liefert Jeremy aus „Knechte“ eine passende Antwort dafür: „Absichten sind wie kleine Möchtegerne, die dir im Kopf rumlaufen und zwischen die einfach mal die fucking Realität grätschen kann, um dir zu zeigen, was sie hält von deinen niedlichen kleinen Absichten.“
Enis Maci
Die 1993 in Gelsenkirchen geborene Enis Maci hat Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Kultursoziologie an der London School of Economics studiert. Sie ist Essayistin („Eiscafé Europa“) und Dramatikerin. Ihr Stück „Mitwisser“ wurde mit dem Hans-Gratzer-Stipendium des Schauspielhauses Wien ausgezeichnet und in der Regie von Pedro Martins Beja am 24. März 2018 ebendort uraufgeführt. Das Stück führt antike Tragödie mit aktuellen Kriminalfällen zusammen und widmet sich dabei nicht in erster Linie Tätern und Opfern, sondern vor allem deren Umfeld.
Während der Spielzeit 2018/19 war Enis Maci Hausautorin am Nationaltheater Mannheim und lud alle zwei Monate zur Veranstaltungsreihe „Steinbruch der Leidenschaften“ im „Studio“ ein. 2019 kam außerdem ihr Stück „Autos“, inszeniert von Franz-Xaver Mayr, im Schauspielhaus zur Uraufführung. Mit fast antiker Sprachgewalt fragt Enis Maci in ihrem Stück danach, was es bedeutet, wenn Familien zerbrechen – was es heißt, wenn jemand sich von der eigenen Herkunft emanzipieren möchte. 2019 wurde Enis Maci außerdem im Rahmen der Kritiker*innenumfrage von Theater heute zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gekürt. Im Jahr 2021 war sie Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul und der Villa Aurora in Los Angeles.
Lisa Wentz
Die 1995 in Schwaz in Tirol geborene und derzeit in Berlin lebende Schauspielerin und Autorin wurde für ihr Stück „Adern“, mit dem sie bereits beim Retzhofer Dramapreis überzeugte, mit dem NESTROY-Autor*innenpreis 2022 ausgezeichnet. Zum Schreiben kam Lisa Wentz über ihr Studium an der Schauspielschule Elfriede Ott. „Ich habe durch die Schauspielerei zu meinem Körper und zu einem spielerischen Umgang mit bestimmten Dingen und Themen zurückgefunden“, sagt die Autorin.
„Adern“ beschreibt sie als „Stück über das Schweigen“. Ihr großes Interesse gilt, wie sie im Gespräch mit der BÜHNE erklärt, nämlich jenen Dingen, die beim Reden ausgelassen werden. „Es geht um versickerte Geschichte, um das Ungesagte zwischen zwei Menschen und jene Dinge, über die wir Generationen lang nicht reden konnten“, erklärt sie. „Und um die Folgen dieses Schweigens, die meist damit zu tun haben, dass Teile unserer Geschichte einfach vergessen werden und verschwinden“. David Bösch war von ihrem immer wieder als Volksstück beschriebenem Text sofort begeistert und inszenierte ihn im Akademietheater.
Lydia Haider
Die gebürtige Oberösterreicherin studierte Germanistik und Philosophie. Ihr erster Text erschien 2015, 2020 gewann sie beim Bachmannpreis den Publikumspreis. Außerdem ist Lydia Haider Chefpredigerin der Musikkapelle „gebenedeit“. Sie ist Hausautorin am Wiener Volkstheater, wo in der vergangenen Spielzeit ihre beiden Stücke „Zertretung I“ und „Zertretung II“ zu sehen waren. Im Juni 2021 feierte der Text „Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit“ Premiere am Schauspielhaus Wien. Aus der Produktion heraus entstand ein gleichnamiger Film. Als Autorin ist sie außerdem regelmäßig für die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin tätig. Zuletzt sorgte sie an der Volksbühne mit dem totalen Musical „Hyäne Fischer“ für Aufsehen.
Darüber hinaus ist sie Mitorganisatorin des „Toten Salons“. Ihre Texte ergießen sich wie eine Flut an Worten über ihre Leser*innen. Mit langen Sätzen, vielen Überhöhungen, großer Dringlichkeit und einem gewissen Hang zu Schimpfwörtern schleudern die Darsteller*innen ihre Texte ins Publikum. „wer lydia haider je live erlebt hat, weiß um die vehemente dringlichkeit ihres vortrags bei gleichzeitiger wahrung liturgischer rituale. auch in ihren texten prallt extremer inhalt auf strenge form, wutrede auf predigt, zote auf epistel“, schreibt Fritz Ostermayer über ihre Arbeit.
Miru Miroslava Svolikova
Miru Miroslava Svolikova studierte Philosophie in Wien und Paris und von 2011 bis 2017 bildende Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien. Von 2016 bis 2018 besuchte sie einen Lehrgang für Szenisches Schreiben beim Dramaforum Graz. Sie verfasste mehrere Theaterstücke und eine Shakespeare Übersetzung und erhielt zahlreiche Preise.
Ihr Stück „Rand“ ist 2022 in der Buchreihe Suhrkamp Theater erschienen und bekam 2021 den Nestroy-Autor*innenpreis für das beste Stück zugesprochen. „europa flieht nach europa“ eröffnete 2018 die Autor*innentheatertage in Berlin und war 2020 beim Heidelberger Stückemarkt nominiert. Ihre Stücke werden in mehrere Sprachen, wie u.a. Englisch, Japanisch und Russisch übersetzt. Am Münchner Volkstheater ist „europa flieht nach europa“ ab Mai 2023 in einer Inszenierung von Anna Marboe zu sehen. Sandra Schüddekopf inszeniert ihr Stück „Gi3F – Gott ist drei Frauen“ in Theater Drachengasse – eine Art modernes Mysterienspiel, das nicht zuletzt das Erzählen selbst humorvoll zum Thema macht.
ich packe meinen rucksack, was kommt hinein? das theater, das sprechen, der körper, das absurde, das reale, der rucksack ist schon ganz schwer, die ganze gegenwart muss auch noch rein, verdammt; die figuren, die klettern immer gleich wieder raus, die ganzen träume noch reinstopfen irgendwie, mein gott, wie bekomm ich den jetzt noch zu. aber es geht, es geht immer irgendwie.
Miru Miroslava Svolikova, Hamburger Poetikvorlesung 2020
Necati Öziri
Necati Öziri, geboren 1988 in Nordrhein-Westfalen, ist Dramatiker und Dramaturg. Er studierte Philosophie, Germanistik und Neue Deutsche Literatur in Bochum, Istanbul, Olsztyn und Berlin. Von 2013 bis 2018 war Necati Öziri Dramaturg am Maxim Gorki Theater in Berlin und leitete dort für zwei Jahre das Studio Я. Sein Stück „Get deutsch or die tryin'“ in der Regie von Sebastian Nübling wurde 2018 zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen.
2019 arbeitete er erneut mit Sebastian Nübling zusammen, als „Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch“ 2019 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. 2021 war Necati Öziri Mentor des Hans-Gratzer-Stipendiums. Aktuell ist er Dramaturg des Theatertreffens der Berliner Festspiele und Leiter des internationalen Forums, sowie Hausautor am Nationaltheater Mannheim.
Nora Abdel-Maksoud
Nora Abdel-Maksoud wurde in München geboren. Sie studierte Schauspiel, schreibt und inszeniert seit 2012 eigene Theatertexte, vor allem Komödien, die sich unter anderem auf Klassenverhältnisse konzentrieren.
Im Kern ihrer Stücke steht immer eine Ungerechtigkeit, schreibt die SZ in einem Porträt über die Autorin, Regisseurin und Schauspielerin. In ihrem Stück „Sie nannten ihn Tico“ wird ein schwarzhaariges Baby Opfer von antimuslimischem Rassismus, in „The Making-of“ persiflierte sie Sexismus und groteske Männlichkeitsbilder in der Filmbranche. Das Thema Klassismus hat Abdel-Maksoud in „Café Populaire, uraufgeführt 2018 in Zürich, literarisch beackert. „Jeeps“, das auch schon im Kosmos Theater zu sehen war, beschäftigt sich mit dem Thema Erben. Die Erbschaftslotterie, die sie entwirft, ist in ihrer Zufälligkeit genauso gnadenlos ungerecht wie die Geburtenlotterie. Diesem Umstand begegnet Nora Abdel-Maksoud mit großer Komik.
Selma Matter
Selma Matter, 1998 in Zürich geboren, studiert Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Davor studierte sie* Literatur, Theater und Philosophie in Hildesheim. Selma Matter war Teil der künstlerischen Leitung des Literaturfestivals PROSANOVA 2020 und Mitherausgeber*in der BELLA triste. Mit Marie Lucienne Verse schrieb Selma Matter das Theaterstück „Alice verschwindet“, das 2023 am Landestheater Linz uraufgeführt wird. Ihr* Stück „Grelle Tage“ wird im Jänner 2023 am Schauspielhaus Wien uraufgeführt. Mit sehr viel Empathie, Leichtigkeit und leisem Humor zeigt Selma Matter darin unsere Welt in einer Selbstzersetzungsdynamik, die von der Zukunft nicht mehr aufzuhalten ist.
Sivan Ben Yishai
Sivan Ben Yishai, geboren 1978 in Palästina/Israel, lebt seit 2012 in Berlin. Sie begann als Regisseurin, die manchmal schreibt, 10 Jahre und viele Kilometer später, ist Schreiben ihre Hauptaufgabe. Ihre auf Englisch geschriebenen Texte werden von Maren Kames ins Deutsche übersetzt. Mit dem Stück „LIEBE/ Eine argumentative Übung“, das im Rahmen ihrer Hausautor*innenschaft am Nationaltheater Mannheim entstand, wurde sie zum Mülheimer Dramatikpreis 2020 eingeladen. Mit „Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)“ in der Inszenierung von Pınar Karabulut an den Münchner Kammerspielen erfolgte eine Einladung zum Berliner Theatertreffen 2022. 2022 wurde sie erneut nach Mülheim eingeladen und dort auch ausgezeichnet.
„Ich schreibe nie zu einem Thema – und wenn doch, misslingt es zuverlässig. Es gibt Künstler*innen, die sehr gut darin sind, auf ein Thema zu reagieren. Bei mir ist es eher so, dass ich die Entscheidung treffe, überhaupt zu schreiben“, erzählt Sivan Ben Yishai in einem Interview mit dem TheaterMagazin.
Teresa Dopler
Für ihr Stück „Das weiße Dorf“ gewann Teresa Dopler den Autor*innenpreis des Heidelberger Stückemarkts. Sie studierte Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien sowie Theater- Film- und Medienwissenschaften an der Universität Wien. 2018 bis 2020 war sie Teilnehmerin des Lehrgangs FORUM Text beim DRAMA FORUM Graz. 2019 nahm sie an der Residency for Emerging Playwrights am Royal Court Theatre in London teil. Ihr Stück „Monte Rosa“ wurde am 19. Mai am Landestheater Niederösterreich uraufgeführt. Am Anfang ihrer Texte steht meist „ein Ort, zwei oder mehr Figuren, die aufeinandertreffen, und die Dynamik, die sich zwischen diesen Figuren entwickelt“, sagt Dopler in einem Gespräch mit dem Landestheater. Faszinierend findet sie vor allem die Kunstsprachen von Autoren wie Thomas Bernhard, Jon Fosse, oder Werner Schwab, erzählt sie in einem Interview mit der BÜHNE. „In Theaterstücken sind sprachlich Dinge möglich, die Romane in dieser Form meist nicht leisten können.“
Thomas Arzt
Thomas Arzt, 1983 in Schlierbach geboren, studierte Drehbuch und Theaterwissenschaft in Wien. Für Aufmerksamkeit sorgte unter anderem sein Stück „Grillenparz“, das 2011 am Schauspielhaus Wien uraufgeführt wurde. Im Jahr 2012 wurde sein Stück „Alpenvorland“ am Heidelberger Stückemarkt mit dem Autor*innenpreis ausgezeichnet.
Seine Stücke wurden in Wien, Mannheim, Linz, Graz, Innsbruck, Heidelberg und in Vorarlberg aufgeführt. 2021 erschien sein erster Roman mit dem Titel „Die Gegenstimme“. „Der Ausgangspunkt war eine Familienrecherche. Bei uns wurde immer wieder diese fast schon mythische Geschichte meiner Großmutter erzählt, dass ihr Bruder Karl der einzige in ihrem Dorf war, der bei der Anschlussabstimmung am 10. April 1938 dagegen gestimmt hat. Ich wusste nie genau, ob das wirklich stimmt und was seine Beweggründe gewesen sein könnten. Ich wollte einfach ein paar Lücken schließen“, erzählt Thomas Arzt im Interview mit der BÜHNE.
Thomas Köck
Thomas Köck wurde 1986 in Steyr in Oberösterreich geboren. Er studierte Philosophie in Wien sowie Szenisches Schreiben und Film an der Universität der Künste Berlin. Für „paradies fluten“, Teil seiner Klimatrilogie „paradies fluten“ „paradies hungern“ und „paradies spielen“, wurde er 2016 mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatik ausgezeichnet. Viele weitere Preise wie zwei Mülheimer Dramatikerpreise und die Wahl zum besten Nachwuchs-Autor in der Theater heute-Jahresumfrage folgten. Thomas Köck lebt in Berlin und gehört zu den am meisten gespielten zeitgenössischen Autor*innen im deutschsprachigen Raum.
Neben sprachphilosophischen Auseinandersetzungen beschäftigt er sich in seinem Texten auch intensiv mit dem Chorischen. „Der Chor erlaubt einfach eine ganz andere Sprechweise, die den Fokus sehr viel stärker auf die Sprache selbst richtet. Wenn man so will, ist der Chor vielleicht sogar die offenste Textform überhaupt. Und es ist darüber hinaus natürlich auch ein wahnsinnig musikalisches Mittel“, sagt Köck in einem Interview mit der BÜHNE. In den Münchner Kammerspielen war zuletzt sein vielgelobtes Stück „eure paläste sind leer (all we ever wanted)“ zu sehen. Im Schauspielhaus Wien findet im März die Uraufführung von „Die Zukunft reicht (noch immer) nicht. (Klagt, Kinder, klagt! Ein Update)“ statt.