Herr Schläpfer, wie können wir uns Ihre Kreation eines Balletts für mehr als 100 Mitwirkende vorstellen?

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Martin Schläpfer: Ich grüble selbst noch … Es ist an sich das Gleiche wie für 50, aber es braucht noch mehr Wachheit und Sensibilität, um alle zu fordern und zu inspirieren. Das neue Stück entsteht zu mehr als 90 Prozent im Saal. Es geht darum, gemeinsam mit den Tänzern den richtigen Weg zu erspüren – schafft man das, ergeben sich Lösungen. Bei 102 Tänzern muss man sich einfach von der Idee lösen, dass nur ein Solo oder ein Pas de deux zufriedenstellt. Auch Gruppenarbeiten können sehr spannend sein, wenn man sie energe­tisch richtig anlegt.

Martin Schläpfer kreiert seine neue Choreografie gemeinsam mit den Tänzern im Ballettsaal, er möchte „nichts aufdrücken“.

Foto: Ashley Taylor

Wiener Staatsballett tanzt zur 4. Symphonie

Was schätzen Sie an dem, was Sie im Wiener Ensemble vorgefunden haben?

Es ist eine sehr virtuose Kompanie. Ich kriege von den Leuten viele Impulse und muss aber andererseits schauen, dass sie gerade bei dieser Choreografie zu Mahlers 4. Sympho­nie meinen Vorstellungen entsprechen. „4“ ist nicht im eigentlichen Sinn ein Ballett … Ich meine, ­natürlich ist es ein Ballett, ein Tanzstück, aber Mahler ist transzendent, figürlich, sinnlich, eigentlich „überall“ – gerade das spricht mich an.

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Was ist Ihr Verständnis von Ballett?

Ich verstehe unter Ballett – vor allem, wenn es um eine Uraufführung geht –, dass es etwas mit uns heute zu tun hat. Damit verneine ich ja „Giselle“ nicht, im Gegenteil. Ich liebe an der Klassik das Poetische, die Sehnsucht nach romantischer Erhöhung, das Entschweben. Aber für mich als heutiger Choreograf ist es interessanter, einen Gegenentwurf zu machen.

Provokant zu sein als Programm finde ich uninteressant."

Ich hoffe, dass es einfach um erstklassigen Tanz in all seinen Richtungen geht, ohne Berührungsängste. Ich will die Türen auch Richtung Schauspiel und guter Opernregie öffnen und Diskussion auslösen, berühren, auch irritieren. Aber provokant zu sein als Programm finde ich uninteressant. Ich bin nicht hier, um zu erziehen, aber wenn mir ein Stück gelingt, das Menschen anspricht, weil ich gewisse Themen oder Grundfragen, aber auch Harmonie und Poesie auf die Bühne stelle, ist das schon sehr viel.

Claudine Schoch und Marcos Menha werden von Schläpfer als besonders offen beschrieben.

Foto: Ashley Taylor

Wiener Staatsballett als Ort der Kreation

Sie sagten, Sie möchten die ­Ausrichtung der Ballett-Kompanie sanft, aber bestimmt ändern. Inwiefern? 

Ich möchte hoffentlich mehr Uraufführungen bringen. Beim Kreieren stellt man Fragen: Warum dieser Schritt? Was hat jener zu bedeuten?

Heißt das, es gibt auch in den nächsten Saisonen einige ­Uraufführungen von Ihnen? 

Ja, natürlich – und hoffentlich nicht nur von mir. Es ist wichtig, dass die Kompanie neben ihrem hohen akademischen Niveau ein Ort der Kreation ist. Heuer sind es zwei neue Werke von mir und die Wiederaufnahmen von Brahms „Requiem“ und den Ligeti-Arbeiten, die ja ähnlich viel Arbeit sind wie Uraufführungen, weil man die Stücke neu evaluieren und neu zum Leben erwecken muss. Und auch der Schläpfer ist nach zehn Jahren ein anderer.

Werden Sie auch selbst tanzen?

Nein, mein Körper macht es nicht mehr, das ist für mich abgeschlossen.

Im Handlungsballett geht es mehr darum, ob der Schritt die Geschichte trägt, nicht, ob er originell ist. Das fand ich sehr befreiend."

Welche Musik reizt, inspiriert Sie?

Das ist bei mir sehr breit gefächert. Da gibt es Werke, die ich will – und solche, die mich aufs Erste nicht überzeugen, aber dann erst recht etwas in mir mobilisieren. Und zuletzt habe ich mit „Schwanensee“ auch das Handlungsballett für mich entdeckt.

Warum diese Kehrtwende?

Ich fand es plötzlich richtig für mich – auch um als Künstler unvorhersehbar zu bleiben. Es war gar nicht fremd für mich, ich fand es sogar erlösend. Denn im Handlungsballett geht es mehr darum, ob der Schritt die Geschichte trägt, nicht, ob er originell ist. Das fand ich sehr befreiend.

Schläpfer wünscht sich noch mehr Weichheit und Bodenhaftung. Das neue Solistenpaar Schoch-Menha brachte er mit ins Ensemble.

Foto: Ashley Taylor

Gemeinsame Entwicklung ohne Angst

Wir können uns von Ihnen also auch Handlungsballette erwarten?

Das wird bestimmt so sein. Aber nicht sofort. Jetzt muss ich erst einmal die Kompanie kennenlernen, und es muss sich natürlich entwickeln.

Was bringen die Tänzer, die Sie ­mitgebracht haben, ein, was es bisher vielleicht nicht so gab?

Sie sind völlig offen. Wenn ich ihnen Schritte vorschlage, überlegen sie nicht, wie es ihrer Muskulatur in einer Stunde geht. Wenn ich Claudine Schoch sage, gehe zwei Minuten in der Hocke auf Spitze, dann macht sie das ohne Angst, wie sie danach das andere Repertoire schafft.

Martin Schläpfer und sein Spiel mit der Sehnsucht

Mit „Ein Deutsches Requiem“ hätte der Chef des Wiener Staatsballetts, Martin Schläpfer, eines seiner international erfolgreichen Stücke an die Volksoper bringen sollen. Nun heißt es warten und hoffen. Die Tänzerinnen und Tänzer proben inzwischen weiter. Weiterlesen...

In welche Richtung soll sich die Kompanie noch mehr entwickeln?

Es ist toll, wie die Männer springen und sich drehen, wie viel Kraft sie haben. Ich hoffe, dass ich sie vielleicht noch zu etwas mehr Weichheit, Durchlässigkeit und Fragilität animieren kann und die Frauen zu noch etwas mehr Bodenhaftung. Mein Wunsch ist, dass der Status der Kompanie noch internationaler wahrgenommen wird. Das gelingt mit ­Uraufführungen am besten.

Wird es immer auch klassisches Handlungsballett geben?

Ja, aber es ist eine Frage des ­Ausmaßes.

Schlussendlich bin ich erst nach Mahler wirklich hier angekommen – oder auch nicht."

Sie haben die Saison mit „Hollands Meister“ und „Jewels“ begonnen, um Zeit für Ihre eigene Kreation zu haben. Reicht diese nun aus?

Anders hätte ich es gar nicht geschafft. Nun wird es sich ausgehen, auch wenn ich noch nicht so weit bin, wie ich möchte. Jetzt zählt, dass ich ein gutes Ballett mache und gleichzeitig alle kennenlerne – und damit die Voraussetzungen für eine gemeinsame Zukunft lege. In einem Jahr geht es dann mehr um das Stück an sich. Wenn es mir gelingt, ein gutes Ballett zu machen, aber vor allem auch die Kompanie energetisch zu vereinen und zu inspirieren, ist viel gewonnen. Schlussendlich bin ich erst nach „Mahler“ wirklich hier angekommen – oder auch nicht. 

Zur Person: Claudine Schoch

Die in Zürich ausgebildete Ballerina war im Bayerischen Staatsballett, im Semperoper Ballett Dresden, im Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg unter Martin Schläpfer und im Ballett Basel engagiert.
Sie tanzt seit der aktuellen Spielzeit in Wien und ist erste Solotänzerin.

Zur Person: Martin Schläpfer

Der neue Direktor des ­Wiener Staatsballetts machte zuletzt das Ballett am Rhein zu einem der führenden Ensembles ­Europas, mehrfach wurde es zur „Kompanie des Jahres“ ­gewählt. Früher selbst Tänzer, u. a. am Basler ­Ballett; er schuf mehr als 70 Choreografien.

Zur Person: Marcos Menha

Der Brasilianer war Mitglied des Balletts des Staatstheaters Karlsruhe, u. a. als Erster Solist, und des Balletts am Rhein Düsseldorf Duisburg, wo Martin Schläpfer zahlreiche Rollen für ihn schuf, darunter Siegfried in „Schwanensee“. Er wech­selte im Herbst nach Wien als erster Solotänzer.

Zu den Spielterminen von „Mahler, live“ in der Wiener Staatsoper!