Endlich Frühlings Erwachen!
Seit 2020 versucht das Theater der Jugend, den Wedekind-Klassiker auf die Bühne zu bekommen. Eine Pandemie später ist es endlich so weit, und das Überthema ist aktuell wie nie: Was bloß hat das alles mit unserer Jugend gemacht?
Was ist bloß los in der Welt? Pornos gibt es auf einen Klick. In allen Spielarten und ohne Altersbeschränkungen. Schon Elfjährige überlegen, welcher der vielen Buchstaben und Zeichen von LGBTQIA+ ihnen zugeordnet werden soll. Als wäre das nicht genug Druck, kommt auch noch Corona. Keine Umarmungen. Keine Partys.
Kann man da aufwachsen, ohne einen Klescher davonzutragen? Und: Wo bloß ist der Spaß hin? Die Leichtigkeit?
Vier Fragen an Victoria Hauer
Victoria Hauer, Ensemblemitglied am Theater der Jugend, wurde beim diesjährigen Nestroy nominiert. Wir haben ihr vier persönliche Fragen gestellt. Weiterlesen...
Gut, Corona ist neu. Internet auch. Aber war früher wirklich alles besser? Was, wenn die Erwachsenenwelt schon immer auf die Jugend und ihre Befindlichkeiten gepfiffen hat? Was, wenn sich nur die Herausforderungen an die Jugend ändern und verschärfen und ansonsten alles ist wie immer?
Einen Hinweis dafür liefert Wedekinds „Frühlings Erwachen“. Es ist die Geschichte von Wendla, Moritz und Melchior und deren Zerbrechen. Moritz begeht Selbstmord. Wendla, von Melchior schwanger, stirbt an einer illegalen Abtreibung. In der Uraufführung des Stücks 1906 in Berlin spielte Wedekind selbst den „vermummten Herrn“, der Melchior zurück ins Leben bringt.
Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit
In fast drei Jahren Corona ist eine ganze Generation von Nachwuchsbesucher*innen dem Theater verloren gegangen. Das Theater der Jugend will sie zurückzuholen. Mit einem Programm, das so breit aufgestellt ist wie nie zuvor – Thomas Bernhard inklusive. Weiterlesen...
Wedekinds Ziel: „die Erscheinungen der Pubertät bei der heranwachsenden Jugend poetisch zu gestalten …, um denselben wenn möglich bei Erziehern, Eltern und Lehrern zu einer humaneren rationelleren Beurteilung zu verhelfen“.
Regie an den Berliner Kammerspielen führte Max Reinhardt. Es war ein Skandal mit Ansage: Kalkuliert provozierte Wedekind den wilhelminischen Obrigkeitsstaat mit den Themen Onanie, Homosexualität, Masochismus und der Hilflosigkeit der Jugendlichen, ihre Sexualität in halbwegs vernünftige Bahnen zu lenken.
Alles wie immer – nichts gelernt
Wedekind hat das Stück Ostern 1891 beendet – vor 132 Jahren! Wir schreiben 2023: In Polen, den USA und vielen anderen Ländern werden Frauen, die abtreiben wollen oder müssen, verfolgt oder in die Illegalität gedrängt. Die Selbstmordraten bei Jugendlichen steigen.
Neubaugasse 38, Theater der Jugend. Die ersten Proben laufen gerade an. Wobei, das stimmt so nicht: Die ersten Proben waren bereits Anfang 2020 ange-laufen. Da wurde das Stück auch zum ersten Mal von der BÜHNE vorgestellt. Im Frühling 2021 dann sogar am Cover.
Wir treffen Thomas Birkmeir, den Direktor des Theaters und Regisseur des Stücks. Für seine Inszenierung von „Anne of Green Gables“ hat er den Deutschen Musical Theater Preis in der Kategorie „Beste Regie“ gewonnen. All die Fragen, die wir zu Beginn dieser Geschichte aufgeworfen haben, treiben ihn, den Kreativen, auch um. Zweimal ausgebremst vom Lockdown. Fast drei Jahre mehr Erfahrung. Und jetzt? „Die Jugendlichen wurden über zwei Jahre weggesperrt und werden allein und staunend wieder auf die Welt losgelassen. Das hat uns, die jungen Schauspieler*innen und auch die Sicht auf das Stück verändert. Das werden wir einflechten und anpassen, daher wird es auch textliche Veränderungen geben.“
Der Direktor und sein Star
Thomas Birkmeir wurde für seine Inszenierung von „Anne of Green Gables“ mit dem Deutschen Musical Theater Preis ausgezeichnet und Victoria Hauer für ihre Darstellung der Titelrolle für den NESTROY nominiert. Wir gratulieren mit einem Doppelinterview. Weiterlesen...
Wie groß ist der Kollateralschaden durch Corona? Wie sehr hat diese Zeit die Jugendlichen geprägt?
Sehr. Gerade als Jugendlicher muss man raus. Erste Erfahrungen machen, Zärtlichkeiten spüren – und dann kommt eine Pandemie, und Nähe und Umarmungen werden stigmatisiert. Die Jungen bekommen Verantwortung für die Gesundheit der Älteren aufgehalst. Dazu die Angst um die Zukunft der Welt, des Planeten. Plötzlich sind da Fragen, mit denen sich Jugendliche früher nicht auseinandersetzen mussten: Habe ich überhaupt noch eine Zukunft, wenn der Planet brennt? Da ist es sehr schwer, freudig in die Zukunft zu schauen.
Kann das Theater etwas ändern, die Jugend retten?
Theater ist dazu da, ein Bewusstsein zu schaffen, Missstände und Befindlichkeiten von Generationen aufzuzeigen und Lösungsansätze anzubieten. Was ich bemerke, ist diese starke Auseinandersetzung der Jugend mit der eigenen Befindlichkeit, die kenne ich aus meiner Generation so nicht.
Derzeit kann ja jede*r alles sein. Das ist wunderbar. Aber überfordert diese Auswahl nicht auch?
Es gibt sicher jene, die meinen: Toll, ich habe alle Freiheiten der Welt. Und dann gibt es sicher jene, die finden: Das macht mir Angst. Das hat viel mit Resilienz zu tun. Die Frage „Wer bin ich?“ wird vielleicht auch ein wenig reduziert auf ein Kürzel. Ich will das nicht bewerten. Es ist eine Zeiterscheinung, über die wir uns Gedanken machen sollten. Es ist zugleich eine sehr politische Generation, die da für den Planeten auf die Straße geht, die aber auch sehr besessen davon ist, herauszufinden, wer sie ist. Das ist sehr spannend. Woher kommt das?
Neue Offenheit oder nur Mode?
Chefdramaturg Gerald Maria Bauer schaltet sich in das Gespräch ein: „Es brechen derzeit schon sehr viele Normative auf. Die Frage ist: Wie weit geht diese Generation? Geht sie über das modische Accessoire hinaus? Ist es tatsächlich die neue Offenheit und Befreiung?“
Thomas Birkmeir setzt nach: „Vielleicht ist es ja die neugierigste Generation aller Zeiten? Das Unangepasstsein hat, so finde ich, eine stark sexuelle Konnotation.“
Und da wären wir wieder direkt bei Frank Wedekinds Satz: „Wer im Dunkeln liebt, der lebt auch im Dunkeln.“ Bedeutet: Ist doch toll, dass die Jugend ihre Sexualität nach außen trägt. Oder nicht?
Es ist über zwei Jahre her, dass die BÜHNE Victoria Hauer das erste Mal zu dem Stück interviewt hat. Was hat sich für sie verändert?
„Meine privaten Perspektiven. Ich habe andere Ansichten. Ich habe das Stück jetzt wieder gelesen und habe mehr verstanden – und konnte mich auch in andere Rollen besser hineinversetzen.“
Und hat sich die Sicht auf die Rolle der Wendla, die sie spielen wird, verändert?
Viktoria Hauer nickt. „Ich glaube, dass Wendla Melchior nicht nur liebt, sondern ihn auch knacken möchte. Die ganze Rolle und die Entwicklung der Beziehung ist mir jetzt klarer, und das ist schön. Ich sehe es positiv: Normalerweise hat man sechs Wochen Probezeit – wir hatten ein paar Jahre, und ich habe viele neue Facetten entdeckt.“
Ludwig Wendelin Weißenberger – er wird den Moritz spielen – setzt nach: „Es gibt noch immer so viele Tabuthemen, was Sexualität betrifft. Es ist zwar ein Überangebot da, aber das Gefühl, dass man als Jugendlicher nicht darüber reden kann, ist noch immer präsent. Allein durch das Internet entstehen so viele Fake News, die geglaubt werden.“
Gibt es dadurch einen Druck, performen zu müssen?
„Ja. Es wird in den Schulen zu wenig für Aufklärung getan. Das Thema Selbstbefriedigung ist immer noch ein Tabu, über dessen Gefühlsebene kaum gesprochen wird. Wenn man dann Pornos sieht, wie da herumgewerkelt wird und wie furchtbar dort mit Frauen umgegangen wird, dann denkt man sich: ‚Aha, muss man das so machen?‘ Das kann gefährlich werden. Mich hat schockiert, wie aktuell das Stück noch immer ist. Es hat sich nur der Rahmen geändert, aber wenig an der Substanz.“
Kluge Worte eines jungen Menschen. Sie machen Lust auf das Stück.