Vera-Lotte Boecker: „Diese Oper greift ins Leben“
Warum die Auszeichnung zur „Opernsängerin des Jahres“ Stress bedeutet. Weshalb die Fächerdiskussion überflüssig ist. Wieso Technik keine Kunst ist. Und was Lulu für sie zur Traumrolle macht: Probenpause mit Vera-Lotte Boecker.
„Die Zeit vergeht hier langsamer.“ Vera-Lotte Boecker meint dies durchaus als Kompliment an ihre neue Heimat Wien. Sie ist mit dem Fahrrad zum Interview ins Café Sperl gekommen und dabei in einen eiskalten Regenguss geraten, was ihrem reflektierten, der Welt nicht immer mit Bierernst zugewandten Wesen keinen Schaden zugefügt hat. Sie bestellt einen üppigen Einspänner, „der nach meinem Geschmack noch deutlich mehr Sahne vertragen könnte“, und ein Käseomelette, an dem sie noch lange essen wird. Sie mag Wiener Kaffeehäuser mit Patina und kann als geborene Rheinländerin mit langjährigem Wohnsitz Berlin auch die behauptete Unfreundlichkeit heimischer Kellner nicht bestätigen. „Ich finde sie auf angenehme Art desinteressiert, sodass man tatsächlich seine Ruhe hat.“ Ein Satz, den sich Wien Tourismus als Slogan sichern sollte.
Die Saison 2023/24 im MusikTheater an der Wien: Paarweise in die zweite Spielzeit
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Vera-Lotte Boecker war von 2020 bis 2022 Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, begeisterte als Micaëla in „Carmen“, als Fusako in Hans Werner Henzes „Das verratene Meer“ oder als Virtù in Claudio Monteverdis letzter Oper „L’incoronazione di Poppea“ und eroberte sich trotz der Corona-Unbill im Schnelldurchlauf ein euphorisches Publikum. In Wien ungewöhnlich, vergeht hier doch auch die Skepsis langsamer. 2022 wählte sie die Fachzeitschrift „Opernwelt“ zur Sängerin des Jahres. Eine Auszeichnung, die ihr vor allem Stress bereitet. „Erst habe ich mich eine Woche lang wirklich gefreut, dann dachte ich, o Gott, alles, was ich ab jetzt mache, wird daran gemessen werden, ob es diesem Siegel entspricht“, so die ebenso selbstkritische wie selbstironische Ausnahmesopranistin. Die nächste Messlatte wird demnach am MusikTheater an der Wien gelegt, wo sie am 27. Mai ihr „Lulu“-Debüt geben wird.
Zur Person: Das Stück
Alban Bergs Oper „Lulu“, vor deren Fertigstellung er starb, entstand nach zwei Tragödien von Frank Wedekind. Sie behandelt das fatale Leben Lulus, ihre Beziehungen – im Zentrum Dr. Schön –, Aufstieg und Fall all ihrer Männer sowie ihren eigenen Absturz. Im MusikTheater an der Wien werden in Koproduktion mit den Wiener Festwochen die zwei von Berg vollendeten Akte, ergänzt um Teile der „Lulu“-Suite, gezeigt.
Lulu lügt nicht
„Die Frau, die sich aus Liebe opfert und stirbt, ist eine gängige Rolle in der Opernliteratur. Mir gefällt allerdings an neuer Musik, dass die Frauenrollen dort mitunter nicht immer reinen Herzens und sympathisch sind“, so Vera-Lotte Boecker einst im Interview zu „Das verratene Meer“. Ist Lulu demnach eine Traumrolle? „Absolut. Sie ist nicht greifbar, hat keinen richtigen Kern, besitzt eine gewisse Oberflächlichkeit und entfaltet darin Verführungskraft. Ihre Figur hat viele Schichten. Sie behauptet von sich: ‚Ich mich verstellen? Das hatte ich niemals nötig!‘ Sie lügt nicht, auch nicht über sich selbst. Und sie ist keine kokette Verführerin, die an tausend Strippen zieht. Wie die Männer auf sie reagierten, liege nicht in ihrer Verantwortung, meint sie im Stück.“
Natürlich sei sie auch eine Projektionsfläche. Die Männer im Stück geben den Frauen individuelle Namen. Lulu ist auch Eva und Mignon. „Jeder sieht und benennt, was er sich einbildet zu sehen oder was ihm gefällt“, so Vera-Lotte Boecker. „Im psychologischen Sinn ist sie eine tragische Figur. Sie wurde mutmaßlich schon als Kind auf den Strich geschickt, dort von Dr. Schön wegadoptiert und immer wieder verheiratet. Damals gab es für Frauen auch wenig Möglichkeit für ein selbstbestimmtes Leben. Das ist die Tragik. Andererseits formt sie daraus aber mit ihren Mitteln eine Stärke.“
Eine Lulu von Puccini würde – nachdem sie versehentlich Dr. Schön getötet hat – ins Kloster gehen und sich dort zu Tode geißeln.
Vera-Lotte Boecker
Ihre Darstellerin findet es wichtig, dass es in der Opernliteratur Frauen gibt, „die aus den beschissenen Umständen, die sie im Leben vorfinden, versuchen, das Beste zu machen, auch wenn sie dabei nicht immer gewinnend rüberkommen. Eine Lulu von Puccini würde, nachdem sie versehentlich Dr. Schön getötet hat, wahrscheinlich ins Kloster gehen und sich dort zu Tode geißeln“, so Vera-Lotte Boecker mit profunder Genrekenntnis. „Die von Alban Berg macht das eben nicht. Und genau das gefällt mir. Diese Oper greift ins Leben, und das soll sie auch.“
Wiewohl sie erst im Sommer mit dem Rollenstudium begonnen habe – „reichlich spät!“ –, habe sie sich schon lange mit dem Stoff beschäftigt. „Bereits während des Gesangsstudiums habe ich mir zu Weihnachten den Klavierauszug gewünscht. Später habe ich Stefan Herheims Inszenierung in Kopenhagen gesehen, einen der brillantesten Theaterabende, die ich je erlebt habe.“ Höchste Zeit also für ihre Lulu.
Selbstkritische Stimme
Wie erstaunlicherweise viele Spitzensänger mag auch Vera-Lotte Boecker ihre eigene Stimme nicht besonders. „Erst heuer bei ‚Daphne‘ an der Berliner Staatsoper hatte ich zum ersten Mal hier und da das Gefühl: Das sind schöne Töne. Das war etwas ganz Neues.“
Was macht eine gute Sängerin in ihren Augen demnach aus? „Ich mag es, wenn ich den Eindruck habe, da muss jemand etwas äußern, es besteht eine Notwendigkeit. Natürlich höre ich immer die Technik, aber sie interessiert mich nicht besonders. Ich kenne Kolleginnen, die ich technisch für miserabel halte, die aber die größten Künstlerinnen unserer Zeit sind. Singen bedeutet großziehen. Man zieht eine Emotion, einen Zustand auf der Bühne groß. Auch bei Partien, die mir nicht nahe sind – und das kann man sich ja nicht immer aussuchen –, muss man etwas finden, womit man arbeiten kann.“
An dieser Stelle ist es ihr ein Anliegen, auch die „leidige Fächerdiskussion“ anzusprechen. „Ich finde, man soll singen, was man singen kann, was die Stimme aushält, womit man über das Orchester kommt. Punkt. So wie Teresa Stratas. Die hat Mimi in ‚La Bohème‘ genauso gesungen wie Kurt-Weill-Lieder, und es hat für sie funktioniert.“ Bis heute finde sie es faszinierend, dass das Instrument Stimme bereits im Körper integriert ist. „Sie ist in uns eingebaut. Man braucht nichts, auch keinen Verstärker, es ist nur das eigene System, das diese Klänge produziert.“ Bei den meisten fallen diese freilich weitaus weniger angenehm aus als bei ihr. Grund zur Vorfreude: Nach „Lulu“ wird Vera-Lotte Boecker am MusikTheater an der Wien in Jaromir Weinbergers „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ zu erleben sein.
Das Omelette ist verzehrt, jetzt geht’s wieder raus in die Kälte. Zum Abschied noch ein erstauntes Bonmot ihrerseits zur ortstypischen Langsamkeit: „In Wien bleiben die Leute auch nachts bei Rot an der Ampel stehen.“ Ja, so viel Zeit muss eben sein.
Zur Person: Vera-Lotte Boecker
Die junge Sopranistin stammt aus Brühl in Nordrhein-Westfalen. Sie studierte zuerst Philosophie und Literatur in Berlin und dann Gesang. Sie ist seit einem Jahr im Ensemble der Wiener Staatsoper und am Sprung zu einer internationalen Karriere.
studierte Philosophie, Literatur und Gesang in Berlin, war fixes Ensemblemitglied am Nationaltheater Mannheim und an der Komischen Oper Berlin, ehe sie 2016 mit „La Juive“ (Calixto Bieito & Bertrand de Billy) in München ihre bisher prägendste Rolle sang. Von 2020 bis 2022 war sie im Ensemble der Wiener Staatsoper, nun arbeitet die „Sängerin des Jahres“ als freischaffende Opern- und Konzertinterpretin.