Viele Wege führen nach Rom
Welchen er letztendlich nehmen möchte, lotet der belgische Theatermacher Luk Perceval gerade gemeinsam mit seinem Ensemble und der Autorin Julia Jost aus. Fix ist: Ungewissheit kann gewiss unangenehm sein, ist für sein Theater aber unerlässlich.
„Es ist ein Wahnsinnsplan“, sagt Luk Perceval und wirkt dabei gar nicht so, als wäre ihm der Wahnsinn bereits dicht auf den Fersen, sondern sehr geerdet, offen und ruhig. Aber vermutlich braucht es genau diese Ruhe, um vier Shakespeare-Tragödien zu einem Theaterabend zu bündeln. Vor etwas mehr als einem Jahr begann der in Belgien geborene Regisseur in einer ersten Konzeptionsphase mit den Schauspieler*innen des Volkstheaters an genau diesem „Wahnsinnsplan“ zu arbeiten. In diesem ersten Probenblock entstand unter anderem ein grobes Textgerüst, mit dem sich Autorin Julia Jost im Anschluss an ihren Schreibtisch setzte.
„Dann fing eine Überschreibungsphase an. Das bedeutet, dass ich das Material wie ein Durchlauferhitzer in mich aufgenommen habe, um daraus einen eigenen Text mit einer eigenen Sprache zu entwickeln. Diesen habe ich dann immer wieder neu überschrieben, den Stift immer wieder neu angesetzt. Ich mag es gerne, langsam zu arbeiten, Dinge sacken lassen zu können und sie dann wieder zu überarbeiten“, erzählt sie im Interview. „Die Rollen waren in dieser Phase noch nicht festgelegt, und wir haben viele unterschiedliche Dinge ausprobiert. Schön war auch, dass die Spieler*innen das Konzept um ihre Perspektive erweitern konnten“, fügt Jost hinzu, die gerade ihren ersten Roman veröffentlicht hat und an Luk Percevals Arbeit unter anderem sehr schätzt, dass er einen großen Hang zur Notwendigkeit hat. „Am Ende sollten wir im Idealfall einen Text vor uns haben, in dem nichts Überflüssiges mehr steht“, hält die gebürtige Kärntnerin fest.
„Je länger man daran schleift, desto eher gelangt man zum Kern“, findet Luk Perceval klare Worte. Woraus sich das hoffentlich schon bald freigelegte Zentrum der vier Shakespeare-Stücke „Titus Andronicus“,„Coriolanus“,„Caesar“ und „Antonius und Cleopatra“ für ihn zusammensetzt, versucht er gerade mit seinem Ensemble herauszufinden. Im Lauf des Gesprächs mit dem umtriebigen Theatermacher kristallisiert sich jedoch immer mehr heraus, dass wir es hier mit Figuren zu tun haben, die in erster Linie ums Überleben kämpfen.„Sie versuchen an die Macht zu kommen, weil sie sich absolute Kontrolle wünschen. Um diese zu erlangen, sind sie sogar bereit, ihre eigene Familie zu opfern und zu verraten. Sie kämpfen darum, dem Tod stets ein paar Schritte voraus zu sein, und werden dabei zu Einzelkämpfern“, hält der Regisseur mit ruhiger Stimme fest. Julia Jost ergänzt: „Natürlich geht es auch um die großen Themen wie Macht, Masse, Bürgerkrieg und Revolution, aber auch darum, wie sich all diese Dinge in unsere Körper einschreiben.“
O du schöne Ungewissheit
Je länger und intensiver er sich damit beschäftigt, umso mythischer und archaischer werde der Stoff für ihn, resümiert Perceval. Darüber hinaus sei er immer mehr davon überzeugt, dass die Geschichte tief in ihrem Kern eine über von Krieg und Verlust ausgelöste Traumata sei, die über die Jahrhunderte von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden. „Und die es einem sehr schwer machen, Nähe zuzulassen und einander Vertrauen entgegenzubringen, die Sehnsucht nach Verbundenheit gleichzeitig aber extrem wachsen lassen“, fügt der Regisseur hinzu.
Zur Person: Luk Perceval
1957 in Belgien geboren, begann seine Theaterlaufbahn 1979 als Schauspieler am Nationaltheater Antwerpen, das er fünf Jahre später verließ, um die freie Truppe „Blauwe Maandag Compagnie“ zu gründen. Sein Shakespeare-Marathon „Schlachten!“ wurde 1999 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Perceval arbeitete bereits an vielen großen Häusern im deutschsprachigen Raum und wurde mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
Shakespeare attestiert er eine eher düstere Sicht auf die Welt. „Aber wie damals die Römer leben auch wir gerade in einer eher düsteren Zeit. Es gibt eine große Verunsicherung darüber, wie und ob es weitergeht. Und genau diese Ungewissheit gehört für mich auch zum Grundton dieser vier Stücke.“ Eine gewisse Ungewissheit sei für ihn auch Teil des Probenprozesses, so Perceval. Er meint das jedoch alles andere als negativ. Im gemeinsamen Nichtwissen liegt für ihn der schimmernde Kern seiner Arbeit. Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag gebaut. „Ich glaube, dass Kreativität und wirkliche Verbindung dann entstehen können, wenn man nicht weiß, was als Nächstes kommt. Und man sich auch traut, das zu sagen. Das erfordert Geduld und ist auch nicht immer einfach auszuhalten. Allerdings kann genau dieses Aushalten einzigartige Dinge zu Tage fördern“, erklärt der Regisseur und merkt an, dass das jedoch nicht bedeute, dass er nicht wüsste, wo er am Ende landen möchte. Allerdings sei der Weg dorthin keineswegs in Stein gemeißelt. Schließlich gilt: Alle – oder zumindest viele – Wege führen nach Rom. Manche stellen sich zwar als Umwege heraus, doch auch die können sehr schön sein.
Zur Person: Julia Jost
wurde 1982 in Kärnten geboren und studierte Theaterregie und kurz auch Bildhauerei. Sie arbeitete als Regieassistentin u. a. am Thalia Theater in Hamburg und realisierte auch eigene Regiearbeiten. 2019 las sie beim Bachmannpreis den Text „Unweit vom Schakaltal“ und wurde mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet. 2024 erschien ihr Debütroman „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“.
Lieber fühlen als verstehen
Wichtig ist Luk Perceval, dass die Schauspieler*innen auf diesem gemeinsamen Weg wahrhaftig und authentisch bleiben. „Der ideale Schauspieler, die ideale Schauspielerin, ich meine hier also Männer wie Frauen, ist jemand, der nicht spielt“, sagte er einmal in einem Interview mit „Theater der Zeit“. In unserem Gespräch unterfüttert er diesen Ansatz mit einem Beispiel: „Ich sage meinen Schauspieler*innen immer, dass sie auch zur Probe kommen sollen, wenn wir an Szenen arbeiten, bei denen sie nicht dabei sind. Weil ich es sehr mag, sie auch in diesen Momenten wahrzunehmen. Das sind jene Augenblicke, in denen sie sehr menschlich sind. Und genau das versuche ich ihnen beizubringen – dass ich Menschen und keine Schauspieler auf der Bühne sehen möchte. Virtuosität kann wunderschön sein, aber ich habe eine große Sehnsucht danach, Menschen in ihrer Wahrhaftigkeit wahrzunehmen.“
Ich habe eine große Sehnsucht danach, Menschen in ihrer Wahrhaftigkeit wahrzunehmen.
Luk Perceval, Regisseur
Dass seine Probentage immer mit Yoga und Meditation beginnen, habe ebenfalls etwas mit dieser Herangehensweise an seinen Beruf zu tun, so Perceval. Denn obwohl in Europa und den USA mittlerweile ein anderes Bild sehr verbreitet ist, geht es in der Yogapraxis eigentlich nicht um die Perfektion der Pose, sondern darum, zu sich zu kommen. Vielleicht auch um Haltung und Positionierung, aber nicht in einem perfektionistischen, auf Selbstoptimierung fokussierten Sinne.
Dazu passt auch, dass für Perceval Fühlen stets vor Verstehen rangiert. Empathie ist für den Belgier ein Schlüsselbegriff. „Ich liebe beispielsweise Filme von David Lynch, verstehe sie aber nicht“, sagt er und lacht. „Ich schaue sie mir trotzdem mehrmals an, weil ich mich von ihren Geheimnissen verführen lassen möchte. Das gilt auch für das Theater. Ich mag keine Inszenierungen, die mir die Welt zu erklären versuchen. Bei Shakespeare geht das auch gar nicht.“
Direkter Zugang
Wenn Luk Percevals Theater eines nicht ist, dann didaktisch, stimmt auch Julia Jost zu. Sie kennt den Regisseur schon lange, war nach ihrem Regiestudium seine Regieassistentin am Thalia Theater. Dann begann sie, sich immer mehr dem Schreiben zu widmen. „Rom“ ist ihr erster Theatertext. Wie der Sound des Stücks sein wird, fragen wir sie. „Mir ging es beim Schreiben auch darum, die Texte zugänglicher zu machen, sie mehr in eine Alltagssprache zu überführen“, antwortet die Autorin.
Es gibt nichts Schöneres, als zu sehen, wie sich der Text beim Sprechen einlöst.
Julia Jost, Autorin
Nach einer kurzen Pause setzt sie nach: „Es war mir auch ein sehr großes Anliegen, dass der Text nicht in der Hermetik des Theaterkanons bleibt, der nur für Leute dechiffrierbar ist, die sich damit schon beschäftigt haben. Mir ist es wichtig, dass die Zuschauer*innen einen direkten Zugang zu dieser Welt bekommen, die Sprache und die Konflikte verstehen können und sich dazu eingeladen fühlen, in die Bildwelt von Luk Perceval einzutauchen.“
Gerade steckt Julia Jost mitten in ihrem zweiten Roman, ganz ausschließen würde sie es aber nicht, wieder einmal fürs Theater zu schreiben. „Es gibt nichts Schöneres, als zu sehen, dass sich der Text beim Sprechen einlöst – dass sich die Spieler*innen diese Sätze nehmen und sie zu etwas anderem werden“, sagt sie abschließend, und man merkt ihr die Freude an der gemeinsamen Arbeit an.
Bevor sich unsere Wege wieder trennen, fragen wir Luk Perceval noch, ob sich in all der Düsternis der Stücke auch so etwas wie ein Hoffnungsschimmer abzeichnet. Er bejaht, weil allein in der Kraft des Theaters für ihn viel Hoffnung liege. Was die inhaltliche Ebene angeht, gibt vielleicht die folgende augenzwinkernde Aussage des Regisseurs ein wenig Aufschluss: „Ich bin großer David-Lynch-Verehrer und habe vor kurzem ein Video auf Instagram gesehen, wo er mit einer Sonnenbrille da sitzt und sagt: ‚Today I am wearing my sunglasses, because I look into the future and I see a very bright future.‘“ Luk Perceval lacht.