Eine junge Frau träumt vom Glück. Schwärmerisch malt sie sich ihre Zukunft als Ehefrau, Geliebte, vielleicht Mutter aus. Sie ist, noch Schülerin in Wien, verliebt in eine Klassenkameradin. Muss, wie so viele jüdische Mitbürger*innen, das Land verlassen, gelangt nach Norwegen und versucht, in der neuen Heimat Wurzeln zu schlagen. Ruth Maier hat psychische Probleme, lernt Gunvor Hofmo kennen und lieben, die später eine bedeutende Vertreterin der modernen skandinavischen Lyrik werden sollte. In ihrem Nachlass werden sich in den 1990er Jahren jene Tagebücher und Briefe finden, auf deren Basis Komponist Gisle Kverndokk und Librettist Aksel-Otto Bull das Musical „Briefe von Ruth“ konzipiert haben. Es zeichnet den Lebensweg der aufstrebenden Künstlerin feinfühlig nach, ohne auch nur ein einziges Mal in eine der vielen Pathosfallen, die man befürchten könnte, zu tappen.

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Das liegt maßgeblich auch an der Regie von Philipp Moschitz, der die Figur der Gunvor Hofmo anfänglich als Erzählerin einsetzt, um sie Schritt für Schritt stärker als eine der Hauptfiguren zu etablieren, ohne die Konzentration auf Ruth Maier zu verlieren. Das Bühnenbild von Matthias Engelmann dominiert ein umgekippter, in die Szenerie gerammter Waggon, dessen Symbolkraft dem Zuschauer von der ersten Sekunde an keine Zweifel am Ausgang der Handlung lässt. Neben den Hauptdarstellerinnen fungiert ein tanzender, singender, sprechender Chor, der nicht nur alle anderen Rollen übernimmt, sondern auch die Dämonen in Ruth Maiers Kopf und die realen Gespenster der nationalsozialistischen Ideologie, denen sie am Ende zum Opfer fällt, darstellt.

Ruth Maier wird 1942 in Auschwitz ermordet. Im Stück wird ihr Tod nicht gezeigt, doch jeder weiß, wohin die letzte Reise geht. Der Schlussapplaus bleibt zunächst aus – Schweigen ist angebracht –, ehe er sich emotional umso energischer Bahn bricht. Ein außergewöhnlicher Abend. Und eine dringende Empfehlung. Wir haben Regisseur Philipp Moschitz und Dirigent Herbert Pichler noch vor der Premiere zum Interview getroffen.

Briefe von Ruth
Christoph Ruda, Emily Mrosek (Ruth Maier) und Jan-Eike Majert

Herwig Prammer

Dritte Wiener Schule

Herbert Pichler ist seit vielen Jahren Musikalischer Leiter der VBW, unterrichtet Popularmusik an der mdw und steht dem „Dancing Stars“-Orchester vor. Was hat ihn an „Briefe von Ruth“ interessiert? „Mehrere Dinge. Ich finde, dass die Thematik in der heutigen Zeit eine gewisse Dringlichkeit hat, an der man nicht vorbeikommt. Außerdem versuche ich seit vielen Jahren, eine Symbiose zwischen den Musicalhäusern und der Oper bei den Vereinigten Bühnen zu erreichen, was hiermit erstmals gelungen ist. Wir sind in einem Musiktheater, zugleich herrscht bei diesem Stück eine Gleichwertigkeit von Text und Musik, was insofern spannend ist, als man diese Ambivalenz in ein Gleichgewicht bringen muss. Und es gibt einen weiteren Aspekt, der rein philosophisch ist: Ich träume von einer Dritten Wiener Schule. Es gibt bekanntlich die Wiener Klassik rund um Mozart, Haydn und Beethoven, die Wiener Moderne mit Arnold Schoenberg, und nun könnte eine Dritte Wiener Schule entstehen, die noch viel umfassender wäre und alle Genres abdecken würde. Wien ist doch beinahe weltweit ein gallisches Dorf, in dem die Wertschätzung für Kunst und Kultur über die Jahrhunderte gewachsen ist. Die Dritte Wiener Schule wäre eine Chance, auf die man vielleicht in 300 Jahren mit Stolz blicken könnte.“ Natürlich ließe sich solches nicht auf dem Reißbrett planen, aber die Tatsache, dass E und U bei den Vereinigten Bühnen nun diffundierten, sei ein erster Schritt.

Briefe von Ruth
Emily Mrosek (Ruth Maier) und Ensemble

Herwig Prammer

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Absurde Relevanz

Philipp Moschitz kommt vom Schauspiel, inszenierte u.a. „Die Dreigroschenoper“ im Münchner Prinzregententheater, „Um die Wette“ am Landestheater Niederösterreich oder „Hair“ in Innsbruck und gibt mit „Briefe von Ruth“ nun sein Regiedebüt an der Kammeroper. „Mich interessieren Arbeiten, die in die Tiefe gehen, und ‚Briefe von Ruth‘ ist ein Stück, das eine unglaubliche Tiefe regelrecht erzwingt. Auch, wenn es als Musical bezeichnet wird, ist es für mich Crossover, hat großartige, intensive Opernmomente und ist insgesamt ein durchkomponiertes Melodram. Ich lehne Pseudorealismus auf der Bühne ab, arbeite immer mit Überhöhungen und Stilisierungen, wofür sich dieses Stück besonders eignet, weil es zwischen Wirklichkeit und Traumsequenzen changiert. Das lässt viel Interpretationsspielraum: Was hat tatsächlich stattgefunden, was spielt sich in Ruths Kopf ab? Genau das sezieren wir und bringen es auf die Bühne. Die meisten Vorgänge sind Behauptungen, und wir laden das Publikum charmant dazu ein, diese Behauptungen gedanklich zu komplettieren.“ Man müsse und wolle auch keine FPÖ-Fahnen hissen, um die absurde Relevanz, die dieses zwischen 1934 und 1942 spielende Drama aktuell habe, zu illustrieren. „Diese offenbart sich ohnehin ganz klar und für jeden ersichtlich. Wir geben kein Statement ab, das übernimmt das Stück schon selber.“

„Briefe von Ruth“ passe, so Herbert Pichler, gut in die Wiener Musicaltradition, die von „Elisabeth“ bis „Rebecca“ eher von morbider Dramatik denn von unbeschwerter Leichtigkeit gekennzeichnet sei. Er sieht in Komponist Gisle Kverndokk einen nordischen Andrew Lloyd Webber. „Webber kann entwaffnend banal sein, wenn es zur Szene passt. So verhält es sich auch bei ‚Briefe von Ruth‘. Und dann wird es wieder grausam in der Intensität, allerdings nur mit minimalen Mitteln. Daran merkt man, dass hier auch große Dramaturgen am Werk waren. Es hat sowohl musikalisch wie sprachlich etwas von Thomas Bernhard. Jede Wortwiederholung dient nicht nur der Überhöhung, sondern hat beim zweiten Mal bereits eine andere Bedeutung und meint beim dritten Mal, vielleicht eine Stunde später, wiederum etwas anderes. Das ist hochinteressant.“

Regisseur Philipp Moschitz ergänzt, man habe lange und gut gegraben, um die Musik in all ihren Nuancen zu verstehen und ihre Essenz zu ergründen. Die Zusammenarbeit mit Herbert Pichler habe ihm großen Spaß gemacht und werde sicherlich fortgesetzt. „Und wir haben ein Sänger*innen-Ensemble auf der Bühne, das all dies auch tragen kann. Hier wird nicht an der Oberfläche gespielt, sondern mit größter Ehrlichkeit. Wir müssen auch schauspielerisch fundiert und klar agieren, weil ‚Briefe von Ruth‘ nicht wie ein Song-Stück aufgebaut ist, sondern mit Zitaten arbeitet. Emily Mrosek (Ruth Maier) und Dorothea Maria Müller (Gunvor Hofmo) verhandeln live auf der Bühne die Beziehung dieser beiden Frauen und singen bzw. spielen sich die Seele aus dem Leib.“

Nach „Briefe von Ruth“ geht es für Herbert Pichler – neben seinen Aufgaben als Musikalischer Leiter bei den VBW – auf die TV-Bühne der „Dancing Stars“. Zudem realisiert er kleine, feine Projekte wie zum Beispiel „Dutch Divas“ mit den niederländischen Musicalstars Ana Milva Gomes, Annemieke van Dam und Wietske van Tongeren. „Und ich will mit meiner Frau und meinen Kindern einfach glücklich sein“, so der wichtigste Vorsatz überhaupt. Glücklich möchte auch Philipp Moschitz sein. Möglicherweise kann auch seine nächste Inszenierung „Kurzschluss“ trotz des ernsten Themas Autismus dazu beitragen. Danach hat er vor, den Jakobsweg zu gehen. Rund 850 Kilometer, welche die meisten Menschen als Reise zu sich selbst beschreiben.

Briefe von Ruth
Philipp Moschitz studierte Schauspiel, spielte u.a. am Thalia Theater sowie in TV-Produktionen und begann mit seiner Inszenierung von „Tschick“ 2015 eine erfolgreiche Regiekarriere

Joel Heyd

Zur Person: Philipp Moschitz

Der gebürtige Osnabrücker studierte Schauspiel an der renommierten Theaterakademie August Everding, gastierte u.a. am Residenztheater, der Bayerischen Staatsoper sowie am Thalia Theater Hamburg und gehört seit 2006 zum Ensemble des Münchner Metropoltheaters. Er war in TV-Produktionen wie „Tatort“ zu sehen und kam über seine Arbeit als Schauspielcoach bei Fernsehserien zur Regie. 2015 inszenierte er am Prinzregententheater München Wolfgang Herrndorfs Erfolgsroman „Tschick“ – zugleich die Initialzündung für seine Regiekarriere. Philipp Moschitz‘ Arbeiten wurden mit zahlreichen Preisen bedacht und zu Festivals wie „radikal jung“ oder den Mühlheimer Theatertagen eingeladen. Als Schauspieler kann man ihn u.a. mit dem Monolog „All das Schöne“, in dem es um suizidale Gedanken geht, sowie demnächst wieder als Frank N. Furter, den er bereits 2023 erfolgreich in Bozen spielte, im Musical „The Rocky Horror Show“ erleben.

Briefe von Ruth
Herbert Pichler studierte Klavier (Jazz und Klassik), ist Musikalischer Leiter der VBW, dirigiert das Orchester der „Dancing Stars“ und unterrichtet Popularmusik an der mdw.

Maria Frodl

Zur Person: Herbert Pichler

Geboren in Linz, kam er zum Jus-Studium nach Wien und beschloss, nachdem er Keith Jarretts berühmtes „The Köln Concert“ im Radio gehört hatte, Klavier (Jazz und Klassik) an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Graz zu studieren. Zu seinen Förderern zählten Jazzgrößen wie Erich Kleinschuster und Hans Salomon. Caspar Richter und Adrian Manz – die Musikdirektoren in den Anfangszeiten der VBW – animierten ihn dazu, musikalische Leitungen zu übernehmen, was sich bald dermaßen erfolgreich entwickelte, dass er 2009 aus Zeitmangel sogar dem großen Nikolaus Harnoncourt für dessen legendäre „Porgy & Bess“-Produktion in Graz absagen musste. Er realisierte Orchesterprojekte mit Bassbariton Thomas Quasthoff ebenso wie Konzerte mit Punk-Ikone Nina Hagen, spielte und arrangierte bei der Eröffnung der Wiener Festwochen 2005 und des Life Balls 2006, war als Musikalischer Leiter der VBW bei zahlreichen Musical-Großproduktionen federführend tätig und fungiert seit der ersten Staffel 2005 als Dirigent des „Dancing Stars“-Orchesters.

Profundes Symposium

Wer noch tiefer in die Materie „Briefe von Ruth“ eintauchen möchte, hat im Rahmen des ganztägigen Symposiums „Leben und Lieben in Zeiten des Hasses“ am 9. März im Theater an der Wien Gelegenheit dazu. Die in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Wien, dem Zentrum für queere Geschichte (QWIEN) und der Königlich Norwegischen Botschaft in Wien realisierte Veranstaltung ist hochkarätig besetzt: Als Vortragende fungieren u.a. Winfried Garscha vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Ingeborg Helleberg von der Universität Oslo, Komponist Gisle Kverndokk, Librettist Aksel-Otto Bull und Regisseur Philipp Moschitz.

Weiters im Programm: Dorothea Maria Müller (Lesung), Magdalena Anna Hofmann (Sopran) und Marcin Koziel (Klavier). Nähere Infos und Tickets à 10 Euro gibt’s via theater-wien.at

„Briefe von Ruth“

Philipp Moschitz (Regie)
Herbert Pichler (Musikalische Leitung)
U.a. mit: Emily Mrosek, Dorothea Maria Müller, Julia Bergen, Reinwald Kranner, Alen Hodzovic, Maaike Schuurmans

Noch bis 16. März in der Kammeroper
Fleischmarkt 24
1010 Wien

theater-wien.at