Theater, das Geschichte schreibt
Heute bejubelt. Morgen entlassen, geflohen, deportiert, totgeschwiegen. Die Volksoper stellt sich der eigenen Vergangenheit und arbeitet mit der Revue „Lass uns die Welt vergessen“ das Jahr 1938 und seine Folgen auf. Regiestar Theu Boermans inszeniert die beispiellose Bewältigung.
Sinn der Feier. Wenn die Volksoper am 14. Dezember auf ihren 125. Geburtstag anstößt, tut sie dies nicht nur in angemessener Euphorie, sondern auch mit dem nötigen Respekt: jenen Menschen gegenüber, die das Haus am Gürtel in den 1930er-Jahren zur populären Hochburg dynamischer Unterhaltung gemacht haben und die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder politisch einwandfreien Haltung von einem Tag auf den anderen von den Programmzetteln verschwanden.
Geschehen während der Proben zur Revueproduktion „Gruß und Kuss aus der Wachau“ 1938, als Hitler in Österreich frenetisch empfangen wurde – und sich verdiente Künstler*innen der Volksoper mit der Frage beschäftigen mussten: Flucht oder Internierungslager?
Am Tag der Geburtstagsfeierlichkeiten bringt die Volksoper nun mit dem Stück „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ eine musiktheatralische Selbstreflexion auf die Bühne, die sich den Gespenstern der Vergangenheit stellt. Was ging damals vor sich? Warum haben so viele Kolleg*innen weggeschaut? Und wie würden wir uns heute in einer ähnlichen Situation verhalten?
Talent ist eben nicht gleichzusetzen mit hohen moralischen Prinzipien.
Theu Boermans, Regisseur
Ganz nebenbei rehabilitiert die Volksoper mit der „Gruß und Kuss aus der Wachau“-Musik von Jara Beneš nach 85 Jahren auch das Genre Revue und erweist ehemaligen Granden wie Hugo Wiener, Fritz Löhner-Beda, Alexander Kowalewski, Kurt Hesky, Viktor Flemming oder Kurt Herbert Adler, die allesamt zu Opfern wurden, eine überfällige Würdigung. Geschrieben wurde „Lass uns die Welt vergessen“ von Theu Boermans auf Basis des Buchs „‚Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt‘. Aus der Volksoper vertrieben – Künstlerschicksale 1938“ von Marie-Theres Arnbom. Der niederländische Theater- und Filmregisseur wird die Welturaufführung auch inszenieren.
Verdrängte Vergangenheit
Theu Boermans ist ein freundlicher Mann mit hellwachen Augen und erfahrungsreichem Leben. Er war in seiner Heimat lange Zeit als Schauspieler erfolgreich, ehe er sich der Regie zuwandte, seine eigene Truppe gründete und schließlich Intendant des Nationaltheaters wurde. Neben seiner Theatertätigkeit dreht er Filme und schreibt bei Bedarf eigene Stücke. Ein solcher Bedarf bestand auch bei „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“. Er habe nach der Anfrage durch Lotte de Beer das oben genannte Sachbuch gelesen und sofort zugesagt, erzählt er.
„Mich hat die Thematik interessiert, denn der Krieg kommt immer wieder auf meinen Pfad. Wir haben in Holland 1940, als die Deutschen kamen, Ähnliches erlebt. Die größten Schauspieler haben sich damals opportunistisch verhalten. Talent ist eben nicht gleichzusetzen mit hohen moralischen Prinzipien. Als ich mit 21 Jahren ans Nationaltheater kam und in ‚King Lear‘ den dritten Wächter von links gespielt habe, standen Kollegen neben mir auf der Bühne, die noch die KZ-Nummern eintätowiert hatten. Wenn dann der große Hauptdarsteller aufgetaucht ist, hörte man sie leise ‚Arschloch‘ und ‚Verräter‘ schimpfen. Denn als die Nazis kamen und sie deportiert wurden, hat er sich nicht solidarisch gezeigt. Nun traten sie wieder gemeinsam auf, und niemand verlor ein Wort über die Vergangenheit.“
Der über Jahrzehnte schwelende Antisemitismus, der sich in Österreich erst im Nationalsozialismus so grausam entlud, sei auch in den Niederlanden immer vorhanden gewesen. Dass sich die Volksoper nun mit ihrer eigenen diesbezüglichen Geschichte befasse, sei ein exemplarischer Vorgang.
(Un)heile Welt
Theu Boermans taucht tief ein in die Geschehnisse des Jahres 1938, als an der Volksoper „Gruß und Kuss aus der Wachau“ in den finalen Proben steckt. Auf der Bühne Eskapismus, in den Straßen Gewaltbereitschaft. „Die Leute gingen ins Theater und freuten sich auf diese heile Welt. Danach schlugen sie Juden zusammen.“ Im Stück werden diese beiden Wirklichkeiten eindrucksvoll miteinander verwoben – man sieht Künstlerinnen und Künstler bei der Ausübung ihres Unterhaltungsberufs und wird Zeuge der immer brutaler werdenden Realität. Originale Ton- und Filmaufnahmen unterstreichen und konterkarieren das Bühnengeschehen zugleich. Als dritte Ebene sieht man in kurzen Sequenzen die Protagonist*innen immer wieder in privaten Situationen. Sie schöpfen Hoffnung, sind verzweifelt, betrinken sich, machen Liebe. „Es war mir von Anfang an klar, dass diese Kontraste notwendig sind, um die Absurdität der Situation zu unterstreichen. Im zweiten Akt überschneiden sich die Ebenen ständig, da bekommt jedes Lied plötzlich eine andere Bedeutung. Es wird immer bizarrer.“
Theu Boermans bereitet gerade einen Filmdreiteiler vor, in dem es um die wahre Begebenheit einer jüdischen Theatertruppe im Durchgangslager Westerbork geht. „Die Künstler dort haben eine Kabarettgruppe gegründet, mit der sie jeden Dienstagabend aufgetreten sind. Am Montag wurde verlesen, wer am Dienstag in die Züge Richtung KZ kam. Der Lagerleiter war ein Theaterliebhaber. In dieser Truppe zu spielen war also lebensrettend. Der Humor, die Ironie wurden unter diesen Umständen immer skurriler. Jeder wusste, was vor sich ging. So ähnlich stelle ich mir auch die Zeit 1938 an der Volksoper vor. Der Intendant hatte Angst um seinen Kopf, der Regisseur wollte einfach weitermachen, und der Souffleur, von den bereits geschlossenen jüdischen Bühnen in der Leopoldstadt kommend, wusste genau, was ihn erwartet, weil er es schon erlebt hatte.“
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Haltung haben
Die Frage, wie wir uns damals verhalten hätten, ließe sich ohnehin nicht beantworten, meint Theu Boermans. „Dass die grausamen Ereignisse in Israel und Gaza das Thema des Stücks, Ausgrenzung und Rassismus, in ein neues, noch komplexeres Licht rücken, ist mir sehr bewusst. Holland und Österreich waren sich darin einig, dass beide Länder Opfer der Nazis gewesen seien. In Limburg, wo ich herkomme, wurden tausende Juden deportiert, dennoch hieß es nach dem Krieg, dass sei nur in Amsterdam passiert. Auch jetzt wären künstlerische Stellungnahmen dringend gefragt.“
„Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ dürfte die wohl wichtigste Produktion auf Lotte de Beers aktuellem Spielplan werden. In den Gängen der Volksoper vernimmt man, dass hier auch künstlerisch Großes im Entstehen sei.
Theu Boermans will den Künstlern von 1938 mit dieser Arbeit auch ein Andenken bewahren. „Man sollte sich ihrer Bedeutung und ihres Talents bewusst sein. Nicht nur in der Volksoper.“