Mozart war verzweifelt. Es war das Jahr 1783, und Amadeus war gefrustet: „Ich habe fast kein einziges Libretto gefunden, mit welchem ich zufrieden seyn könnte“, schrieb er an Papa Leopold.

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Zwei „gleich gute frauenzimmer Rollen“ sollte das neue Werk enthalten, die eine „Seria“ die andere „Mezzo Carattere“, und das Ganze sollte vor allem eines sein: „comisch“.

Drei Jahre später hatte er dann seinen Hit – dank des genialen Librettisten Lorenzo Da Ponte: „Le nozze di Figaro“ – Figaros Hochzeit.

Es ist eine Oper voller Superlative. Alleine das Finale des zweiten Akts ist mit 20 Minuten, acht beteiligten Solist*innen und fast tausend Takten das längste Finale, das Mozart je geschrieben hat. Eine Oper voller Witz, Hits und Gesellschaftskritik. Die „Wiener Realzeitung“ schrieb nach der Premiere: „Was in unseren Zeiten nicht erlaubt ist, gesagt zu werden, wird gesungen.“ Die umjubelte Aufführung am 1. Mai 1786 gipfelte in einem Da-capo-Verbot – ausgerufen durch den Kaiser höchstselbst. Das Publikum hatte so oft Wiederholungen der Ensemblenummer verlangt, dass die Aufführungsabende nicht enden wollten.

Wir wollen Barrie Kosky und seinem Ensemble damit keinen Druck machen … aber …

Erster Stock im Objekt 19 des Wiener Arsenals. Fünfter Tag der Proben. Barrie Kosky ist in einer Nachbesprechung mit seinem Team. Leider ist noch kein Bühnenbild aufgebaut. Leider. Bei „Don Giovanni“ stand die Lavalandschaft schon, und wir konnten es Ihnen vorab verraten. Also hoffen wir, dass Barrie Kosky selbst uns was erzählen wird.

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Perfektion ist nicht das Ziel

Je komplizierter die Handlung, desto weniger wollen Sie auf der Bühne haben. Also wird’s wohl recht leer werden?

Alle Da-Ponte-Opern werden anders sein, auch was das Bühnenbild betrifft. Ich arbeite nicht immer mit dem gleichen Team – ich habe fünf verschiedene Bühnenbildner. Jedes Stück ist ein eigener Kosmos. Es gibt keine Inszenierung von mir, in der der Vorhang hochgeht und die Menschen gelangweilt nicken und sagen: Ah, das ist Barry. Es gibt keinen Kosky’schen Stil. Ich fange immer mit dem Nichts an und warte dann, was kommt. Bei „Don Giovanni“ war klar, dass es eine Landschaft werden wird. Bei „Figaro“ ist es anders: Raum ist das Hauptthema, man muss vier Räume haben. Die Menschen werden überrascht sein.

Ich werde also viel realistischer sein. „Don Giovanni“ und auch „Così fan tutte“ sind abstrakte Stücke. „Figaro“ ist eine Gesellschaftskomödie. Figaro und Susanna haben vom Grafen einen Raum als Geschenk bekommen, und der ist sehr besonders. Im zweiten Akt wird es der Raum der Gräfin, in dem sich alles abspielt, und im vierten Akt ist man dann in einem Garten. Es ist der erste demokratische Raum in dem Stück: In der Dunkelheit des Gartens gibt es keinen sozialen Status.

Patricia Nolz
Patricia Nolz über ihre Rolle des Cherubino. „Er ist der zentrale Motor, er kommt, wenn die Handlung stillzustehen droht, und stiftet Chaos. Wenn man es sympathisch macht, hat er das Potenzial zum Publikumsliebling.“

Foto: Lukas Gansterer

Sie ziehen Sänger, die auf der Bühne auffallen, jenen vor, die vielleicht besser singen, aber nicht so gut spielen.

Perfektion hat keinen Stellenwert im Theater. Eine Sonate oder eine Skulptur können vielleicht perfekt sein. Im Theater ist Perfektion nicht das Ziel. Man muss eine Gefährlichkeit erzeugen. Wir wissen aus der Geschichte der Oper, dass nicht immer die besten Stimmen die berühmtesten Opernsänger*innen waren. Die Callas wäre heute eine Lachnummer, weil wir in den vergangenen dreißig Jahren an Perfektion und Authentizität gewöhnt wurden. All diese furchtbaren Worte. Ich hasse sie. Leonie Rysanek war vielleicht nicht die beste Sopranistin der Welt, aber sie hat auf der Bühne gelodert.

Der Körper als Instrument

Ihre Inszenierungen sind auch sehr sexy und erotisch …

Sie können sie erotisch nennen (lacht), aber sie sind sinnlich. Ich meine: 99 Prozent der Oper sind ein Tango zwischen Eros und Thanatos – also zwischen Liebe und Tod. Für mich ist der Körper ein Instrument. Er ist genauso wichtig wie die Stimme. In meinen Inszenierungen kann man nicht einfach nur dastehen und singen. Das ist kein Musiktheater. Es gibt diese Sinnlichkeit der Musik und die Sinnlichkeit des körperlichen Spiels.

Andrè Schuen
Andrè Schuen über seine Rolle des Graf Almaviva. „Der Graf ist ein Narr, er hat seine Gefühle nicht unter Kontrolle. Er ist nicht böse, aber es hat ihm nie jemand Grenzen gesetzt. Er dreht irgendwann völlig durch.“

Foto: Lukas Gansterer

Ist das der Grund, warum Ihre Inszenierungen auch ein sehr junges Publikum begeistern?

Ja und nein. Ich bin total dagegen, Inszenierungen nur für ein junges Publikum auszuschildern. Ich liebe es, wenn in meinen Stücken ältere Paare neben jungen sitzen, wenn sich alle angesprochen fühlen oder sie etwas finden, was sie abholt. Das Genre muss sich weiterentwickeln, es darf nicht stehen bleiben. Ich mache meine Arbeit für ein breites Publikum. Ich mag Punzierungen nicht.

Man hat das Gefühl, dass Sänger*innen bei Ihnen besonders abliefern wollen. Woran liegt das? Was machen Sie richtig?

(Lacht.) Es gibt viele Menschen, die glauben, dass ich nichts richtig mache. Aber ich versuche Ihnen meine Erklärung dafür zu sagen: Erstens habe ich ein sehr breites Interesse, was Musiktheater betrifft – von Barock bis Musical. Für mich ist es immer der gleiche Arbeitsprozess, und ich liebe es. Es ist kein Job, es ist bezahlte Freude. Ich kann müde sein, aber es ist ein Privileg. Und der letzte Punkt ist: Ich liebe Darsteller*innen. Ich verstehe ihre Mentalität. Ich verstehe, was sie brauchen, ich habe riesigen Respekt, und ich liebe ihr Talent.

Ying Fang
Ying Fang über ihre Rolle der Susanna. „Die Susanna ist für mich eine sehr kluge und angstfreie Kämpferin, gepaart mit einer hohen sozialen Intelligenz. Mozart hat hier ein zeitloses Meisterwerk geschaffen.“

Foto: Lukas Gansterer

Mozart is Wahrheit

Sie haben einmal gesagt, die Jahre in Wien waren traumatisch für Sie. Was genau haben Sie damit gemeint?

Haben Sie Zeit? Die Erklärung wird dauern. (Lacht.) Das Wien damals war klaustrophobisch. Dunkel. Anders als jetzt. Wien ist offener. Man fühlt Luft hier, es ist auf Durchzug geschaltet, es ist viel lockerer geworden.

Was ist der besondere Witz von Da Ponte?

Wer Mozart war, wissen wir. Mozart ist Wahrheit. Leichtigkeit. Sinnlichkeit. Man ist immer sprachlos, wenn man seine Musik hört. Man vergisst aber gerne, dass Mozart in diesen drei Opern diese Genialität ohne Da Pontes Text nie geschafft hätte. Besonders „Figaro“ wäre nie dieser Erfolg geworden ohne die brillante Fassung, ohne sein brillantes Verständnis von Mozarts Musik und sein brillantes Wissen um das Musiktheater. Es gibt keine falschen Momente in „Figaro“. Es ist wie bei Shakespeare und Tschechow: Sie urteilen nicht über die Charaktere auf der Bühne. Das Publikum muss sich selbst ein Urteil bilden, und es sieht Menschen, die genauso wenig perfekt sind wie sie selbst.

Da Ponte hat Komödie einfach verstanden. Das ist perfekte Situationskomik.

Barrie Kosky, Regisseur
Peter Kellner
Peter Kellner ist Figaro. „Meiner Meinung nach ist er ein Alltagskrieger. Von Anfang an ist er im Chaos. Er selber glaubt, er ist der wichtigste Mensch, die Hauptrolle. Aber dann löst alles Susanna. Es ist wie im wirklichen Leben.“

Foto: Lukas Gansterer

Ist es nicht auch die Geschwindigkeit des Textes, dass Da Ponte nie langweilen will, dieser Screwball-Comedy-Zugang?

Richtig. Da Ponte hat Komödie einfach verstanden. Diese Geschichte, die schon die Griechen beherrscht haben und auch die Comedia dell’arte: die perfekte Situationskomik. Es ist wie bei den Marx Brothers. Die Welt ist ernst, und die Marx Brothers brechen diese Ernsthaftigkeit durch surrealistische Elemente auf. Auch bei „Figaro“ ist das so: eine Welt voller Regeln, und die Komödie macht diese Regeln kaputt. Und wir als Publikum genießen das. Es ist zehnmal schwerer, eine Komödie zu spielen und zu schreiben, als eine Tragödie …

 … weil?

Weil der Rhythmus und das Timing anders sind. Man braucht dafür ein Bauchgefühl und einen guten Instinkt.

Die Salzburger Festspiele wären eine echte Herausforderung."

Barrie Kosky

Vermissen Sie es, dass Sie nicht mehr Intendant sind?

Keine Sekunde. Ich habe immer gesagt, dass es nach zehn Jahren Komischer Oper vorbei ist. Und ich war immer in der sehr glücklichen Position, dass ich immer Angebote bekommen habe – auch hier in Wien. Ich wurde gefragt, ob ich das Theater an der Wien machen möchte, die Volksoper, die Festwochen. Es waren sehr, sehr schöne Angebote. Ich habe sogar der Bayerischen Staatsoper abgesagt. (Lacht.)Das war eine schwere Entscheidung. Ich genieße meine Zeit als Künstler.

Vielleicht ein Festival? Die Salzburger Festspiele?

Markus macht einen großartigen Job. Ich arbeite für ihn. Aber für die Zukunft? Ich würde zu einem Gespräch nicht nein sagen, die Salzburger Festspiele wären eine echte Herausforderung. (Lacht.)

Zu den Spielterminen von „Le nozze di Figaro“ in der Wiener Staatsoper!