Samouil Stoyanov: Komm, süßer Tod
Als Frau Q. steigt Samouil Stoyanov in „Heit bin e ned munta wuan“ tief in die Wiener Seele hinab. Als Schauspieler möchte er sich nicht von Lobliedern davontragen lassen, sondern unbedingt am Boden bleiben und in sich selbst hineinhören.
Am Tag nach der Weihnachtsfeier über ein Stück zu sprechen, das „Heit bin e ned munta wuan“ heißt, passt gut, findet Samouil Stoyanov. Er lacht. So ganz stimmt das jedoch nicht, denn sobald der Schauspieler über seine Arbeit – „die zwar ein bisschen freakig, aber im Endeffekt auch nur ein Job ist“ – zu sprechen beginnt, lädt er zu einer wilden, aber auch tiefgründigen Fahrt durch seine Gedankenwelt ein. Eine Einladung, die man wohl nur dann ausschlägt, wenn man besagten Titel zum Lebensmotto erhoben hat. Und selbst in diesem Fall könnte man sich der Energie Stoyanovs und seiner fast schon kindlichen Freude an Dingen wohl nur schwer entziehen.
Er hatte große Lust darauf, sich auf der Theaterbühne mit österreichischen Dialekten auseinanderzusetzen, sagt der Schauspieler über das Stück, das sich aus Texten der Wiener Gruppe zusammensetzt und von Wolfgang Menardi auf der großen Bühne des Volkstheaters inszeniert wird. Anstatt mit Worten zu erklären, warum das so ist, will er die Sache lieber etwas greifbarer und sich selbst damit auch ein Stück weit angreifbar machen. Er legt die Textfassung vor sich auf den Tisch und liest einige jener Zeilen vor, bei denen er es als notwendig erachtete, ein paar Begriffe in ihrer standarddeutschen Entsprechung daneben hinzuschreiben. Rollbalken kommen darin unter anderem vor. Und die sind – Weihnachtsfeier hin oder her – im Falle Stoyanovs nun definitiv wieder ganz oben.
Bei unserem Gespräch steckt er mitten im Textlernprozess – ein ziemlicher Kraftakt, denn den Löwenanteil der Fassung stemmt Samouil „Sami“ Stoyanov allein. Den zweiten, anfangs parallel laufenden Erzählstrang übernimmt Claudia Sabitzer. „Ich finde es wichtig, mich jetzt schon vorzubereiten, weil ich ein ziemlich langsamer Textlerner bin. Ich will den Text immer mit dem ganzen Körper lernen und dann auch wieder vergessen, was ich gelernt habe. Mir ist es wichtig, während des gesamten Prozesses eine gewisse Offenheit zu behalten, bevor es sich erst gegen Ende zuschnürt.“
Fünf Probentage hatte der in Linz aufgewachsene Schauspieler zum Zeitpunkt unseres Interviews schon hinter sich. „Leider waren es nicht die geplanten zehn Tage, weil ich mir beim Basketballspielen ein Band gerissen hatte und ich eine Woche lang mit einem Liegegips zu Hause war“, erzählt Stoyanov und fügt lachend hinzu: „Es hat aber insofern ganz gut gepasst, weil es in unserem Stück unter anderem um Einsamkeit geht.“
„Er ist einerseits eine Urgewalt auf der Bühne, hat aber auch etwas tief Zärtliches in seinem Spiel.“
Wolfgang Menardi über Samouil Stoyanov
Demut üben und Spaß haben
„Es war schon zu Beginn klar, dass es ein Abend mit Samouil im Zentrum und ein Stück über den Tod werden wird“, erzählt Regisseur und Bühnenbildner Wolfgang Menardi. Er setzt fort: „So kam mir der Grundgedanke zu dem Stück, über die Einsamkeit von Frau Q., Tierpräparatorin a. D., die seit vielen Jahren ihre Wohnung nicht mehr verlassen hat und zur Mörderin und auch zur Selbstmörderin wird. Beim Entwickeln habe ich mich intensiv mit Texten der Wiener Gruppe auseinandergesetzt.
Es war mir wichtig, dass ich die Texte nicht in eine Geschichte zwinge, sondern die Handlung sich darüber entfaltet.“ Der Ursprungsgedanke zu dem Abend liegt jedoch noch weiter zurück, so der Regisseur. „Meine Eltern hatten eine Schallplatte zu Hause, auf der Helmut Qualtinger die ‚Schwarzen Lieder‘ von H. C. Artmann singt. Ich war damals absolut fasziniert davon, auch wenn ich nicht alles verstanden habe.“ Mit zahlreichen Neuvertonungen ausgestattet, wird Musik auch in seiner Inszenierung eine zentrale Rolle spielen.
Faszination empfand der gebürtige Tiroler auch, als er Sami Stoyanov an den Münchner Kammerspielen zum ersten Mal begegnete. „Er ist einerseits eine Urgewalt auf der Bühne, hat aber auch etwas tief Zärtliches in seinem Spiel. Gerade im Umgang mit schwierigen Texten wirkt es so, als würden die Texte aus seinem Körper, Darm, Bauch, Herz kommen und nicht aus seinem Kopf. Dadurch entsteht etwas ganz Eigenes.“
In einem Interview mit „Theater heute“ beschrieb es Stoyanov folgendermaßen: „Ich hab keine Ahnung, was ich da mache. Und gleichzeitig hab ich voll die Ahnung, was ich da mache!“ Greifbarer kann man vermutlich nicht erklären, was sich hinter dem großen Wort Intuition verbirgt.
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Würde es nicht um das Theater und schon gar nicht um Samouil Stoyanov gehen, könnte man von einer Erfolgsformel sprechen, schließlich räumte der 1989 geborene Schauspieler mit seiner Art zu spielen 2022 sämtliche im deutschsprachigen Raum existierenden Preise ab. Weil dieser Artikel aber nun einmal von Sami Stoyanov handelt, der sich in keine Form und schon gar nicht in irgendeine Art von Formel pressen lässt, vergessen wir diesen Gedanken gleich wieder.
Wenn der Schauspieler nämlich eine Sache garantiert nicht ist, dann ist das: berechnend. Weder auf der Bühne noch im Gespräch. Sehr viel passender sind Begriffe wie: unberechenbar, hochtourig, ungeschützt, mitreißend und angreifbar. Mit Sätzen wie „Es ist ein Zulassen und kein Erarbeiten von Dingen“ bringt er gut auf den Punkt, worum es ihm als „Schauschpackl“ (den Ausdruck hat er von Claudia Bauer) bei seiner Arbeit geht. Zulassen bedeutet für ihn immer auch: zuzulassen, wer und was man ist – sich zu enthüllen. „Bei ‚König Lear‘ in München gab es diese besondere Begegnung mit dem unfassbaren Schauspieler Thomas Schmauser. Da habe ich zum ersten Mal nach der Schauspielschule wieder total losgelassen.“
Um dieses Gefühl zu erlangen, sei Vertrauen unglaublich wichtig, so Stoyanov. Auch darin, dass Ensemblekolleg*innen damit rausrücken, wenn sie Eitelkeiten bemerken, die sich bei einem selbst eingeschlichen haben. Der Preisregen habe schon etwas mit ihm gemacht, hält er mit ruhiger Stimme fest. Diesen Prozess könne man gar nicht aufhalten, wenn „das Ego derart mit Liebesbekundungen gefüttert wird“. Umso mehr sehe er seine Hauptaufgabe momentan darin, auf dem Boden zu bleiben und Demut zu üben. Und natürlich: Spaß zu haben. Basketball hätte ihm dabei sehr geholfen. Wie auch dabei, strukturierter zu werden und durchzuziehen. „Ich bin in meinem Urwesen ein unstrukturierter Anarchist“, sagt er und lacht sein offenes, nunmehr hellwaches Lachen.
Ort der Empathiebildung
Zurück zum Stück: Das Q in „Frau Q.“ sei im Übrigen eine Anspielung auf Helmut Qualtinger, erklärt Wolfgang Menardi. „Aber um den Grundcharakter dieser Frau zu finden, waren die ‚Alltagsgeschichten‘ von Elizabeth T. Spira ein wichtiger Quell der Inspiration.“ Von Wien fühlte er sich schon in seiner Jugend angezogen. „Gerade auch wegen dieser Melancholie, die es, jedenfalls für mich, ausstrahlt. Wien kommt meinem Gemüt recht nahe. Jedes Mal, wenn ich hier arbeite, denke ich darüber nach, herzuziehen, weil ich mich verstanden fühle.“
Wie er die Beziehung der Stadt zum Volkstheater mittlerweile einschätzen würde, wollen wir noch von Samouil Stoyanov wissen. Er antwortet: „Mich erinnert das total an die Münchner Kammerspiele. Da ging es im dritten und vierten Jahr plötzlich steil bergauf, weil man eine Sprache miteinander gefunden hat. Das ist hier auch so. Und damit meine ich das gesamte Haus. Wir steigern uns kontinuierlich, aber mittlerweile wird erwartet, dass Kunst wie ein Start-up funktioniert. Das Theater ist für mich aber etwas ganz anderes, nämlich ein Ort der Empathiebildung.“ Und auch: ein Ort, der auch an müden Tagen munter macht – der die „oweglossenen roiboikn“ vor den eigenen Augäpfeln im Idealfall prompt nach oben schnellen lässt.