In „Quais de Seine“, dem mittleren Teil der gefeierten Theatertrilogie von Alexandra Badea, schlägt die in Frankreich lebende Autorin mit rumänischen Wurzeln eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart. Ihrer Protagonistin, einer Journalistin namens Nora, gelingt es jedoch nicht, diese zu überqueren – und zwar im buchstäblichen Sinne. Als sie sich auf die Suche nach der Ursache der Angst macht, die sie auf der Brücke verspürte, schält sich immer mehr heraus, dass ihr Ursprung in ihrer eigenen Familiengeschichte zu finden ist.

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Es sei keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, sagt Regisseurin Azelia Opak über das Stück, das sie in einer theatralen Lesung auf die Bühne bringt. „Am Anfang gab es ein paar Dinge, die ich mir ein bisschen subtiler oder komplexer gewünscht hätte. Ich hatte das Gefühl, dass eine schematische Darstellung von Kriegsgeschehnissen, von kolonialer Gewalt, von Folter und Blutvergießen passiert. Das hat mich zu Beginn beinahe angeekelt. Nach und nach habe ich es aber immer mehr als Geschenk empfunden, dass es eine rumänische Autorin gibt, die auf Französisch und mit einem frischen Blick die Wunden der anderen vermitteln möchte. Jetzt empfinde ich es eher so, dass Alexandra Badea uns ihren Körper und ihre Stimme leiht, um diese Erfahrungen mit ihr gemeinsam zu durchleben. Dadurch bekommt der Text eine Aktualität, die ich sehr spannend finde“, erklärt die Regisseurin, die nicht zum ersten Mal im Rahmen des Wortwiege Festivals inszeniert. 2023 brachte sie Shakespeares selten gespieltes Stück „Coriolanus“ in den Kasematten auf die Bühne.

Für Azelia Opak hat die Angst der Hauptfigur, die an einem Radiofeature über die blutige Zerschlagung einer friedlichen Demonstration gegen den Algerienkrieg im Herbst 1961 arbeitet, nichts mit transgenerationaler Schuld zu tun. „Ich glaube nicht an das Schuldgefühl der Folgegeneration“, hält sie fest. „Schuld kommt von oben herab, sie ist die Schwester von Victimizing und die Fortführung einer Machtposition. Bei Nora geht es eher darum, dass sich die Kolonialgeschichte ihrer Familie in ihr Erbgut eingeschrieben hat. Deshalb geht sie zur Therapie – weil ihr Körper mehr zu wissen scheint als ihr Kopf. Außerdem gibt es diese unausverhandelte Ungerechtigkeit, die auf Nora einfach nicht gut ruht – und sich deshalb auf diese Weise zeigt. Solche Menschen bräuchte es definitiv mehr.“

Play Badea
Bei den Proben für „Play Badea!“ in den Kasematten.

Foto: Manon Soukup

Empathie als Essenz

Wir sitzen in der großen Küche des Creative Cluster im 5. Bezirk und haben – nach mehreren spannenden Umwegen – schließlich eine Brücke zum Thema Empathie geschlagen. „Für mich ist Empathie die Essenz meiner Arbeit“, findet Azelia Opak klare Worte. Sie setzt fort: „In einem guten Drama gibt es für mich stets zwei gleich starke Kräfte, die aufeinanderprallen. Als Regisseurin muss ich mit allen Figuren empathisch umgehen, nicht nur mit denen, die meiner privaten Haltung und meiner politischen Meinung entsprechen. Dadurch schaffe ich, so hoffe ich zumindest, einen Raum für das Publikum, ebenfalls Empathie zu empfinden. Das durchaus eine der wichtigsten Antriebsfedern für mich.“

Auch bei der Stoffauswahl sei das für sie ein wichtiger Faktor, fügt sie hinzu. „Zusätzlich habe ich gleich am Anfang meiner Theaterkarriere begriffen, dass es eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber Regie-Personen mit migrantischem Hintergrund gibt. Und ich, vor allem in der freien Szene, eigentlich nur existieren kann, wenn ich diesen Erwartungen entspreche.“

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Dass Azelia Opak darauf keine Lust hatte, glaubt man ihr aufs Wort. „Ich habe mir daher Stoffe ausgesucht, die gezeigt habe, dass ich mehr bin als all diese Dinge, die von mir erwartet werden. Außerdem haben Thomas Bernhard und ich sehr viel mehr gemeinsam als man im ersten Moment denkt“, sagt sie und lacht. Am Max Reinhardt Seminar, das sie 2022 abschloss, suchte sie sich „Ritter, Dene, Voss“ als Stoff für ihre Vordiplominszenierung aus. „Nach Claus Peymann war ich die erste, die das Stück in Wien inszeniert hat“, sagt Opak grinsend. Neben Bernhard hat sie unter anderem auch Shakespeare, Strindbergs „Der Vater“, „Venus im Pelz“ von Sacher-Masoch und Opern für Kinder inszeniert.

Dass sie „Quais de Seine“ als theatrale Lesung auf die Bühne bringt, stört sie nicht. Ganz im Gegenteil. „Ich liebe szenische Lesungen. Man ist näher am Text und hat nur fünf Tage Zeit, um die Grenze zum Inszenieren auszuloten. Ich bin ohnehin eine Regisseurin, die gerne lange am Tisch sitzt und liest. Meistens so lange, bis der Drang ins Bühnenbild zu wechseln so groß ist, dass sich der Moment einfach ergibt.“

„Als Theatermacherin sehe ich es als meinen Auftrag, in den innersten, dunkelsten Impulsen der Figuren etwas zu sehen, das vielleicht mit dem globalen Weltgeschehen zu tun hat.“

Azelia Opak, Regisseurin

Brücken ins Gestern schlagen

Wir sprechen auch über Noras Verlangen Vergessenes ans Tageslicht zu befördern und Stimmen, die lange Zeit überhört würden, wieder hörbar zu machen. „Einerseits ist das ihr Beruf“, so Opak. „Andererseits gibt es im Stück diese Stelle, in der ihr Therapeut sie fragt, warum sie sich mit den Geschichten von anderen so viel lieber beschäftigt als mit ihrer eigenen. Vielleicht könnte man das auch über meine Theaterarbeit sagen.“

Im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Stück hat sie noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen ihr selbst und ihrer Hauptfigur entdeckt: „Ich glaube, dass sie sich nach einem geschichtslosen Zustand seht – nach einer Stille und nach einem Ort, über den man nichts weiß und mit dessen politischer Situation man sich nicht auseinandersetzen muss. Nach Statuen ohne Namen. Das ist eine Fantasie, die ich auch immer hatte. Wie würde ich Theater machen, wenn ich nicht mit einem identitätspolitischen Rucksack ankommen muss, sondern ganz einfach als Erdling und Künstlerin? Wie würde ich diese Stoffe dann angehen?“

Auf jeden Fall versuche sie bei zeitgenössischen Texten, „die sehr im Heute picken“, immer, eine Brücke ins Gestern zu schlagen. Damit meint sie jedoch gar nicht so sehr ein Gestern im zeitlichen Sinne, sondern „etwas Universelleres, etwas sehr Menschliches.“ Bei „Quais de Seine“ hätte ihr Alexandra Badea diese Arbeit jedoch ein bisschen abgenommen. „Ein großes Geschenk“, so Opak.

Diese Bewegung des Herauszoomens und Erkennens einer universelleren Dimension sei eine Sache, die in der deutschsprachigen Theaterlandschaft gerade zu wenig geschehe, findet Opak. „Als Theatermacherin sehe ich es als meinen Auftrag, in den innersten, dunkelsten Impulsen der Figuren etwas zu sehen, das vielleicht mit dem globalen Weltgeschehen zu tun hat. Aber es ist auch meine Rolle als Künstlerin, die Welt anzusehen und die Dinge, die ich sehe, in die Konflikte der Stücke zu übertragen. Beides wurde meiner Meinung nach vernachlässigt. Stattdessen sind die Themen kleiner geworden, man kratzt in denselben Wunden herum, weil man das Gefühl hat, dass man die Wunden der anderen nicht erzählen kann.“

Bevor sich unsere Wege wieder trennen, möchte Azelia Opak noch einmal zur Frage zurückkommen, warum sich die Liebe zu Alexandra Badeas Text erst nach und nach entwickelte. „Je tiefer ich eingetaucht bin, umso klarer wurde mir, dass es sich hier um einen Text handelt, der die Absurditäten des Lebens auf unvergleichliche Wiese darstellt. Es wird beispielsweise von einem Konzert des Musikers Ray Charles erzählt, das unmittelbar nach der blutigen Zerschlagung der Demonstration an demselben Ort stattfand. Das Blut wird abgeputzt und Ray Charles tritt in Paris auf. Solche Szenen finde ich toll, weil sie zeigen, wie komplex und absurd das Leben ist. Da ist die Dramatik für mich am nächsten am Leben dran.“

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