Norma und der Geist der Callas
„Der Geist der größten Sängerin aller Zeiten schwebt über ,Casta Diva‘, einem der größten Hits der Oper“, sagt Federica Lombardi, die neue Norma der Wiener Staatsoper. Wie sie diesen für sich nutzen wird und was uns erwartet – alle Antworten hier.
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Foto: Lukas Gansterer
Es sind circa 7:30 Minuten. Und sie entscheiden alles. Das Stück beginnt leise in melodiösen Wellen. Zuerst die Geigen, dann die Flöten. Nach 1:30 Mi- nuten eine winzige Pause, dann steigt das Hauptthema wieder ein, und dann, nach weiteren 10 Sekunden, die Stimme. Diese winzige Pause kommt nach der siebten Minute wieder. Winzig. Dann bleibt dieStimmeallein.Nursiemussjetztdas Haus füllen. „Casta Diva“ – die große Arie aus Bellinis Oper, erster Akt, Norma beginnt mit der heiligen Zeremonie. Das Publikum weiß: In diesem Moment steht das Schicksal des Abends auf dem Spiel. Kein Räuspern. Alle Aufmerksamkeit ist auf die Gesangslinie gerichtet.
„Ich fange bei den Proben dieses Lied zu singen an, und Magisches passiert. Die Zeit stoppt, alles steht still. Alles, was auf unserer Welt gerade passiert, ist so deprimierend, aber dieses Gefühl schwindet durch die Melodie, und es entsteht Hoffnung. Es ist ein Gebet. Alle kennen ‚Casta Diva‘. Es ist eine Herausforderung. Die Musik und die Geschichte fordern Respekt. Die Geister der größten Sängerinnen aller Zeiten schweben über ‚Casta Diva‘ – vor allem der von Maria Callas. Es ist eine Ehre“, sagt Federica Lombardi.
Die aus Cesena stammende Sopranistin gibt ihr Rollendebüt als Oberpriesterin der Druiden, die zwei Söhne mit Pollione (Juan Diego Flórez) hat. Der verliebt sich in eine Jüngere (Vasilisa Berzhanskaya). Das Ende: Norma und Pollione begehen Selbstmord am Scheiterhaufen. Wie nur wenige andere ist „Norma“ eine Sängeroper, über deren Erfolg allein die Hauptpartien entschei- den. Bellini setzte diese ganz bewusst von den wenigen Nebenpartien ab.
Im Gegensatz zu Lombardi muss Flórez „nur“ das hohe C in seiner Anfangsarie treffen, und es läuft. Neidisch? Lombardi lacht. „Nein. Aber es braucht viel Kraft und ein kluges Haushalten, um bis zum Ende das verlangte Niveau zu halten. Ich lerne von all den großen Sängerinnen, die es vor mir geschafft haben. Ich hole mir Inspirationen, und dann mache ich etwas Eigenes daraus.“
An den Wänden der Probebühne, wo wir das Interview führen, hängen Bilder der Kostüme. Der Regisseur Cyril Teste, der in Wien bereits die „Salome“ neu inszeniert hat, gesellt sich zu uns. Interviews sind nicht ganz seins, das wissen wir – aber wir haben es versucht ...
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Foto: Cyril Zannettacci
Wer ist Norma für Sie, Herr Teste?
Eine gefangene Seele.
Was ist das Geheimnis der Oper?
Das Geheimnis. Mit dem Geheimnis zu leben.
Was ist Norma für eine Frau?
Norma ist eine Frau mit Visionen, die uns offenbart, wie schwierig es in einer patriarchalischen Gesellschaft ist, den Weg zu Liebe und Freiheit zu finden. Sie ist eine Frau, die uns wieder mit der spirituellen Dimension der Menschheit verbindet. Sie ist eine Frau, die den Menschen sehr nahesteht und sich in ihre Gemeinschaft einfühlt.
Warum begeht eine so starke Frau Selbstmord? Noch dazu wegen eines Mannes?
Sie bringt sich nicht so sehr wegen eines Mannes um, sondern wegen eines Systems, das sie nicht fortführen möchte.
Wie wollen Sie Pollione zeigen?
Pollione ist in erster Linie ein Machtmensch, der seine Triebe über seine Sensibilität stellt, und doch ist er ein liebevoller Vater, der seine Zerbrechlichkeit vor seinen Kindern auslebt.
Ich wollte Tennisprofi werden, aber dann – mit 16 – verliebte ich mich in die Welt der Oper.
Federica Lombardi
In welcher Epoche spielt Ihre „Norma“?
In jeder Epoche: „Norma“ ist eine zeit- lose Geschichte.
Die Druiden sehen aus wie Soldaten der Résistance – warum? Die Frauen sehen aus wie Florence Nightingale – warum?
In diesem Werk befinden wir uns inmitten eines Konflikts, in dem Druiden und Zivilisten zu den Waffen greifen müssen, um sich zu verteidigen, als Gefangene in ihrer eigenen Stadt. Ich möchte, dass man hört, wie sehr dieses Werk auch heute noch mitschwingen kann – leider auch in der heutigen Zeit.
Welche Bedeutung hat „Casta Diva“ in Ihrer Inszenierung?
„Casta Diva“ ist ein Lied, das seine ganze Dimension entfaltet, wenn wir auf die heutige Welt blicken, die in Flammen steht. Es ist eine Ode an den Frieden.
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Foto: Lukas Gansterer
Federica Lombardi wird bei „Casta Diva“ ein wunderschönes geblümtes Kleid tragen – warum?
Warum nicht?
Stimmt. Dumme Frage. „Norma“ ist eine Oper, in der die Sänger fast allein über den Erfolg entscheiden – was bedeutet das für den Regisseur?
Ich verstehe den Sinn dieser Frage nicht.
Gut. Ich probiere eine sinnvollere Formulierung: Der Geist der Callas lastet auf den Schultern jeder Sängerin in „Norma“. Wie kann der Regisseur dazu beitragen, diesen Druck zu minimieren?
Indem er den Geist der Callas mit offenen Armen empfängt.
Dies ist Ihre zweite Arbeit in Wien. Was haben Sie von „Salome“ gelernt?
Mehr als nur zu lernen, ist es vor allem eine große Ehre, erneut eingeladen zu werden, an der Staatsoper zu arbeiten, und eine große Freude, dieses Werk mit einem so anspruchsvollen, engagierten und kreativen Team zu kreieren.