Einer der ersten Filme zeigte einen einfahrenden Zug im Bahnhof. Es waren zwölf Bilder pro Sekunde, die über die ersten Projektoren liefen. Die Menschen staunten und stürmten die Kinos.

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125 Jahre später ist es ein Hubschrauber, der in einem Theater landet. Seinen großen Auftritt hat der Heli im zweiten Teil von „Miss Saigon“, er erscheint aus dem Dunkeln, donnert und blinkt. Das „Tschock, tschock, tschock“ der Rotoren knallt akustisch durch den Saal. Apocalypse now. Mitten in Wien, in einer Seitengasse des Gürtels, im neu ­renovierten Raimund Theater. Mehrere Tonnen ist die Maschine schwer, die die „Miss Saigon“-Macher hier landen lassen. Es ist ein bombastischer Showeffekt und zugleich eine der herzzerreißendsten Szenen.

Bevor Sie fragen: Ja, in diesem Musical landet tatsächlich ein Hubschrauber auf der Bühne. Nein, es ist keine Projektion, kein Taschenspielertrick aus der Illusionskiste. Er ist – fast – wie ein echter.

Die berühmte Szene mit dem Hubschrauber. Der Heli landet auf dem Dach der US-Botschaft: Der GI Chris kann mit, seine große Liebe Kim muss zurückbleiben. Es ist ein Foto aus der Produktion in London.

Foto: Cameron Mackintosh

Am Anschlag des Möglichen

„Miss Saigon“ ist das Musical zu den Plakaten, die seit fast zwei Jahren in Wien an allen strategischen Orten hängen: eine untergehende Sonne im Abendrot. In der Sonnenkugel ein stilisierter Hubschrauber. Darin ein verliebtes Paar. Daneben in weißer Schrift: „Die bewegendste Liebesgeschichte unserer Zeit.“ Das nennt man eine echte Ansage. 

Und ist das auch so? Wir haben das Musical vorab gesehen und uns mit den Machern und den hochsympathischen Hauptdarsteller:innen von „Miss Saigon“ unterhalten. Es ist eine Bestandsaufnahme, eine Einführung in den Musicalhype, der in Wien entstehen wird, eine Geschichte, an deren Ende Sie vielleicht Ihren Computer hochfahren und auf die Suche nach einem Ticket gehen werden.

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„Miss Saigon“ ist eine Oper, produziert wie ein MTV-Clip, verpackt in eine Pop-Partitur. Es fordert nicht nur von der Technik alles (Bühne, Licht und Sound sind schlicht spektakulär), vor allem die Rolle der Kim ist stimmlich derart komplex komponiert, dass bei einigen der großen Hits am Anschlag des Möglichen gesungen werden muss. 

Ein Stück in einer Minute: Miss Saigon
Oedo Kuipers a Heinz (Kim) sind ab 23. Jänner in „Miss Saigon" im Raimund Theater zu sehen.

Foto: Luise Reichert, Styling: Mike York, Haare / Make-up: Sophie Chudzikowski

Darum geht es im Stück

Die Storyline ist ähnlich dem Libretto, das Giuseppe Giacosa und Luigi Illica für Puccinis „Madama Butterfly“ entworfen haben: Junge, naive Japanerin verliebt sich in US-Soldat. Sie wird schwanger. Er geht zurück in die USA. Heiratet eine andere. Asiatin trifft Marine wieder. Nachdem es für das Wir keine Zukunft gibt, will sie eine für das gemeinsame Kind – und begeht Selbstmord. Vorher noch eine große Arie. Wiedersehen.

 „Aber wie passt hier der Hubschrauber in die Geschichte?“, werden Sie fragen. Im Falle von „Miss Saigon“ spielt das Stück im Vietnam der letzten Kriegstage. Die 17-jährige Kim arbeitet in einem Bordell. Trifft dort auf GI Chris. Verbringt eine Nacht mit ihm. Sie wird schwanger. Er flieht mit einem der letzten Hubschrauber (da ist er wieder) vom Dach der amerikanischen Botschaft. Sie kommt nicht rein. Drei Jahre später trifft sie in Bangkok ihren Traummann wieder. Nach einigen ganz, ganz großen Hits und vielen Tränen kommt es zum dramatischen Showdown in seinen Armen. Wir meinen es ohne Zynismus: Wer spätestens an dieser Stelle nicht weint, hat kein Herz …

Internationaler Erfolg

Schmonzes, meinen Sie? Definitiv nicht. Der internationale Erfolg irrt nicht: „Miss Saigon“ wurde bereits in 32 Ländern (369 Städten) gespielt, übersetzt in 15 Sprachen (u. a. Tschechisch, Finnisch und Koreanisch), gesehen von über 36 Millionen Zusehern weltweit. Dazu über 70 Theaterpreise, darunter drei Tony Awards für die Original­inszenierung und immerhin zwei Tony-Nominierungen für das Broadway-Revival 2017. 

VBW-Musical-Intendant Christian Struppeck über das Musical: „Miss Saigon ist eine sehr emotionale Geschichte, wahrscheinlich die bewegendste Geschichte, die jemals in einem Musical erzählt wurde. Es hat sehr viel Lokalkolorit. Wir haben gesagt, für die Eröffnung wollen wir diesen Aufwand ­betreiben und etwas ganz Spektakuläres machen.“

Foto: Andreas Jakwerth

Für Wien wurde die deutsche Fassung neu übersetzt. Christian Struppeck, Intendant: „Wir haben viele neue Passagen gebraucht, und ich wollte es ein bisschen moderner.“ Er macht eine Kunstpause. „Man sagt übrigens nicht Übersetzung dazu, sondern Adaption. Es gibt Spezialisten für Liedtexte und Dialoge. Da wird nicht wörtlich übersetzt, sondern die Kunst dieser Menschen besteht darin, bei den Dialogen nicht genau dasselbe zu sagen, sondern die Stimmung aufzugreifen.“ 

Michael Kunze

Michael Kunze konnte gewonnen werden. Wer das ist? Fragen Sie das bloß nicht zu laut: Kunze schrieb und produzierte Hits wie „Griechischer Wein“, „Die kleine Kneipe“ oder „Ich war noch niemals in New York“. Er hat Peter Maffay entdeckt und einen Grammy, einen Echo und 79 Goldene und Platin-Schallplatten zu Hause herumstehen (wo, wissen wir nicht). 

Er schrieb die Musicals „Elisabeth“, „Tanz der Vampire“, „Mozart!“ oder „Rebecca“ und nicht zu vergessen die deutschsprachige Version von „Mamma Mia!“. Christian Struppeck: „Bei Kunze ist es manchmal in deutscher Sprache besser als im Englischen, weil er eben selber Texter ist.“ 

Vor fünf Jahren hat Struppeck das erste Mal mit den Lizenzgebern Kontakt aufgenommen. Man braucht viel Vorlaufzeit für einen derartigen Megahit, und man braucht gute Kontakte und ein Haus mit exzellenter Reputation. Wie eben das Raimund Theater. Struppeck, zurückhaltend: „Die Macher müssen das Gefühl haben, dass das Stück qualitativ-künstlerisch gut aufgehoben ist. Wir dachten uns, für die Wiedereröffnung des Hauses wollen wir diesen Aufwand betreiben und ein solch außergewöhnliches Stück spielen.“

Harmonisches Team. Das sind im Übrigen die neuen, bequemen Sessel des Raimund Theaters, über die ganz Wien spricht. Darauf: Kuipers und Heinz.

Foto: Luise Reichert, Styling: Mike York, Haare / Make-up: Sophie Chudzikowski

Vanessa Heinz: demnächst Superstar

Jetzt – knapp einen Monat vor der Premiere am 3. Dezember – nimmt niemand in der Öffentlichkeit Notiz von Vanessa Heinz. So fühlt sich also Ruhm mit Anlauf an. 

Wir treffen die zierliche Berlinerin mit Wurzeln in Hongkong zufällig am Bühneneingang des Theaters. Wir sind am Weg zum BÜHNE-Fotoshooting. 

Spätestens ab dem 3. Dezember wird die Rolle der Kim das Leben von Vanessa Heinz ins Promi-­Licht katapultieren. 1.800 Bewerbungen für den Cast gab es insgesamt. Vanessa Heinz ist bei den ersten Auditions noch auf der Musicalschule, aber sie kommt bis in die letzte Runde, die in London mit und vor Produzent Cameron Mackintosh stattfindet: „Ich hatte nichts zu verlieren, also habe ich mich beworben und mich Runde für Runde durchgekämpft. Zum Glück hat das geklappt.“ 

Wer die Rolle der Kim kennt, weiß, dass es nichts mit Glück zu tun hat, sondern mit reinem Können sowie dem Volumen und der Brillanz der Stimme. Denn diese wird – wie bereits erwähnt – maximal gefordert.

Warmes Essen zum Frühstück

Christian Struppeck: „Kim muss jung sein, ganz jung aussehen, und es ist logisch, dass dies meist keine Darstellerinnen sind, die schon zehn Jahre auf der Bühne stehen. Deswegen ist es sehr aufregend, dass wir da jemand Besonderen entdecken konnten.“

Wer weiß, vielleicht hat Vanessa Heinz in Cameron Macintosh sentimentale Gefühle ausgelöst. Denn die allererste Kim – Lea Salonga – wurde nach weltweiten Castings in Manila entdeckt und bekam für ihre hinreißende Darstellung zuerst den Laurence Olivier Award und dann den Tony. 

Vanessa Heinz ist schüchtern („Ich stehe in Gesellschaft nicht so gerne im Mittelpunkt“), erst als wir übers Essen reden, taut sie langsam auf. „Eine asiatische Mutter fragt dich nicht, wie es dir geht, sondern: Hast du schon etwas gegessen?“ Sie lacht. Einige Jahre hat sie in Hongkong gelebt und vermisst das warme Essen „auch zum Frühstück“.

Kim ist 17, Vanessa 23. „Von außen wirkt sie so zart und schwach, aber sie kämpft wie eine Löwin – obwohl ihre Lage chancenlos ist. Nur so gelingt es ihr letztlich, für ihren Sohn das Leben zu erreichen, das sie sich so sehr für ihn wünscht – ein Leben in Freiheit und Würde.

Oedo Kuipers, der perfekte Chris

Während wir plaudern, sitzt Oedo Kuipers, 32, entspannt in einem der wunderbar bequemen Sessel des neu renovierten Raimund Theaters. Er ist ein Beobachter. Man unterstellt ihm, wenn man ihm so zusieht beim Beobachten, dass er Menschen und Situationen gut und richtig lesen kann. Cool ist er. Unaufgeregt, sympathisch. Wie bloß, fragt man neidisch, kann man derart perfekt in der Balance sein? Therapie? Oedo (man spricht es Udo aus) grinst: „Keine Ahnung. So bin ich halt.“ 

Kuipers ist auf dem Land aufgewachsen. Hat es bei der TV- Castingshow „Op zoek naar Joseph“ nicht in die Liveshows geschafft, „aber ich habe dort viel gelernt – auch dass das Singen und Performen mein Job werden könnte“. 

In Holland ist es völlig logisch, dass die Karriere­richtung ins Ausland zeigt – und Kuipers zog los. Mittlerweile ist er ein Profi im Showgeschäft. Und: Er hat bereits hinter sich, wie es sich anfühlt, wenn man in Wien zum Star wird. 

„Ich muss das machen"

2015 war das in „Mozart!“. Es ist seine erste große Hauptrolle, weitere folgen. Er tingelt: „Jesus Christ Superstar“ (Staatstheater Oldenburg), „Matterhorn“ (St. Gallen) „Ludwig2“ (Füssen), um eine kleine Auswahl zu nennen. Jetzt ist er wieder in Wien. „Ich freue mich. Jetzt habe ich ein paar Jahre mehr Bühnenerfahrung und kann alles besser handhaben.“ Was ihm an der Rolle des Chris am besten gefällt? „Der Drang, das Ehrliche und Richtige zu tun – auch wenn man wahnsinnig harte Entscheidungen treffen muss. Er sieht etwas und kann gar nicht anders, als zu helfen. Alles in ihm sagt: Ich muss das machen. Auch wenn er gleichzeitig weiß: Ich will hier weg, ich muss hier raus!“

Das Verhältnis zwischen den Schauspielern ist ein wenig wie das des großen Bruders zur kleinen Schwester. Der PR-erfahrenere Oedo führt Vanessa Heinz sehr behutsam durch die gemeinsamen Fotoposen. Charmant, wie dezent er das macht. Man merkt: Diese zwei mögen sich. Gut für sie. Gut für die Rolle. Perfekt für uns – das Publikum. Man spürt, das wird etwas. Die bewegendste Liebesgeschichte aller Zeiten. Mindestens. Schauen Sie hin!

Zur Person: Vanessa Heinz

Die 23-Jährige ist in Hongkong geboren und in Berlin aufgewachsen. Sie absol­vierte die Münchner Theaterakademie August Everding. Die Rolle der Kim ist ihre erste ­bedeutende Hauptrolle.

Zur Person: Oedo Kuipers

Der 32-Jährige wuchs in Gerkesklooster-­Stroobos (Niederlande) auf. Seine erste große Hauptrolle war Mozart 2015/16 im gleichnamigen Musical in Wien. In der Rolle des Chris kehrt er wieder zurück ans Raimund Theater.

Die Premiere von „Miss Saigon" findet am 3. Dezember statt. Zu den Aufführungsterminen.