„Gib’s zu, du hast geübt“, hält Dörte Lyssewski mit der ihr eigenen schmunzelnden Direktheit fest. Sie sitzt auf dem roten Teppichboden vor dem holzvertäfelten Publikumsaufzug im Burgtheater
und beobachtet ihren Kollegen Michael Wächter, der gerade versucht, den Vorstellungen des Fotografen nachzukommen.

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Dass sie auf dem Boden sitzt, ist nur ein sogenanntes Detail am Rande: Eigentlich kaum erwähnenswert, wenn es nicht doch etwas über die Schauspielerin verraten würde. Unter anderem, dass Dörte Lyssewski auch nach fünfzehn Jahre Festengagement am größten Haus im deutschsprachigen Raum absolut auf dem Boden geblieben ist.

Zudem lässt es auch vermuten, dass sie das Theater als Raum begreift, in dem Zimperlichkeit und Eitelkeit keinen Platz haben. Dass dem tatsächlich so ist, wird die Schauspielerin, die innert Millisekunden von ganz leise auf ganz laut wechseln kann, gleich im Gespräch bestätigen.

Der aus München nach Wien gewechselte Michael Wächter hat inzwischen abgeliefert und wird sich im Interview als jemand herausstellen, dem es viel wichtiger ist, klar Position zu beziehen, als irgendwelche Posen abzuspulen. Außerdem ist stark anzuzweifeln, dass er tatsächlich „geübt“ hat, denn auch in Theaterproben geht er am liebsten möglichst frei und leer hinein – ohne sich vorher bestimmte Posen für seine Figur überlegt zu haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass er keine klare Haltung zu den Dingen hätte, die ihn im Laufe der Arbeit an einem Stück beschäftigen. Ganz im Gegenteil. Doch dazu gleich mehr.

Falsche Fährten

Es ist das erste Mal, dass Dörte Lyssewski und Michael Wächter, der zuvor am Münchner Residenztheater engagiert war, aufeinandertreffen. Um zum Künstlerzimmer zu gelangen, wo wir gleich über ihre Stücke „Egal“ und „Ellen Babić“ sprechen werden, sind wir mit dem Lift in den dritten Stock gefahren. Nicht mit dem holzvertäfelten von vorhin, sondern mit einem anderen. (Randnotiz: Im Burgtheater gibt es verdammt viele Lifte. Und damit auch verdammt viel Potenzial, sich in all seinen Höhen und Tiefen zu verirren.)

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Thomas Jonigk
Der Regisseur. Thomas Jonigk, Chefdramaturg des Burgtheaters, führt Regie. Die beiden Stücke hätten ihn sofort in ihren Bann gezogen, erzählt er im Interview. Die Premiere findet als Doppelabend statt, danach werden die Stücke einzeln gezeigt.

Foto: Tommy Hetzel

Um falsche Fährten geht es auch in den bereits angesprochenen Stücken. Sowohl „Egal“ als auch „Ellen Babić “, beide aus der Feder des Dramatikers Marius von Mayenburg, werden gesellschaftspolitisch relevante Fragen auf eine Weise verhandelt, die es den Zuschauer*innen verunmöglicht, sich auf eine Seite zu schlagen. Geschickt lässt der Dramatiker offen, wer von den Figuren nun tatsächlich Schuld auf sich geladen hat und wer Opfer ist. Seine große Lust daran, mit den Erwartungen des Publikums wie auch mit gängigen Rollenzuschreibungen zu spielen, sprudelt aus beiden Stücken nur so heraus.

Ihr Inhalt in aller Kürze: In „Egal“ stellt ein Paar fest, dass Gleichberechtigung und Erfolg im Beruf in Kombination mit Familie leere Versprechen des Kapitalismus sind. Immer wieder werden die Rollen getauscht und damit Fragen aufgeworfen: Was ist wichtig? Und was ist egal? Gibt es so etwas wie eine gleichberechtigte Beziehung überhaupt?

In „Ellen Babić“ vermischen sich mehrere Fälle von Machtmissbrauch auf eine Weise, die bis zum Schluss offenlässt, wer seine Machtposition nun tatsächlich auf verachtenswerte Weise ausgenutzt hat. „Beim Lesen hatte ich das Gefühl, von einem Satz zum nächsten auf falsche Fährten gelockt zu werden“, so Dörte Lyssewski, die in „Ellen Babić“ die Rolle der Astrid verkörpert. „Ich hoffe, dass ich auch im Laufe des Probenprozesses nicht zu einem endgültigen Ergebnis kommen werde, weil ich denke, dass sich auch die Zuschauer und Zuschauerinnen nie sicher sein sollten, wer nun recht und wer unrecht hat. Ist sie Täterin, Opfer oder beides? Ich weiß es nicht.“

Immer nur abzufeiern, was man eh schon weiß, finde ich langweilig.

Dörte Lyssewski, Schauspielerin

Weil wir Dörte Lyssewski und Michael Wächter noch vor den Konzeptionsproben zu Interview und Fotoshooting treffen, rufen wir am Vortag des Termins bei Regisseur Thomas Jonigk an und fragen nach, wie er auf die beiden Stücke gekommen sei. Wir erwischen ihn mitten in den Endproben zu „Liliom“.

Er antwortet: „Ich würde sagen, dass die Texte mich gefunden haben, denn als Chefdramaturg bekommt man Berge von Stücken zugeschickt. Diese beiden haben mich sofort total gefesselt, sodass ich sie einfach nicht mehr aus der Hand legen konnte. ‚Egal‘ vor allem aufgrund des surrealen Kniffs, der in diesem Stück steckt und mich sehr an Ionesco erinnert hat. ‚Ellen Babić‘ ist meiner Meinung nach ein meisterliches Kriminalstück, weshalb ich sofort an Alfred Hitchcock denken musste. Es ist ein Stück, das ganz stringent durchdekliniert, was passiert, wenn sich gesellschaftliche Macht mit privaten Gefühlen vermischt und dabei die Frage aufwirft, wie sehr man sich im Privaten tatsächlich von diesen Machtstrukturen befreien kann.“

Dörte Lyssewski
Dörte Lyssewski wurde 1966 in Niedersachsen geboren, studierte an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und wurde 1989 von Peter Stein an die Berliner Schaubühne engagiert. Nach einigen Jahren als freie Schauspielerin und einem Engagement am Schauspielhaus Bochum ist sie seit 2009 Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters. Sie ist u. a. zweifache NESTROY-Preisträgerin. Auch im Regiefach hat sie sich bereits ausprobiert.

Foto: Christoph Liebentritt

Zusammen ist (fast) alles besser

Beim Lesen von „Egal“ gab es viele Momente, in denen er sich ziemlich ertappt gefühlt hätte, erinnert sich Thomas Jonigk. „Gerade am Anfang, wo Erik so dahockt und beleidigt ist, weil er sich in seiner Beziehung nicht gesehen und wertgeschätzt fühlt – das kenne ich unglücklicherweise auch von mir selbst. Trotzdem ist es kein Trennungsstück, sondern ein Plädoyer dafür, es immer wieder miteinander zu versuchen.“

Michael Wächter sagt dazu ergänzend, dass er das Projekt unter anderem deshalb so toll finde, weil es wirklich „ein Text von heute ist, mit Leuten von heute und mit Problemen von heute,
morgen und übermorgen“. Darin sehe er eine große Chance, sich Themen wie Gleichberechtigung auszusetzen und darüber nachzudenken. Hervorheben möchte er außerdem, dass die Sätze, die im Stück ausgesprochen werden, sowohl von Simone (gespielt von Caroline Peters) als auch von Erik gesagt werden.
Man kann sich das so vorstellen: Das Handy klingelt, oder ein Geschenk wird ausgepackt, und ein plötzlicher Rollentausch geschieht. „Darin zeigt sich, dass der Inhalt häufig weniger interessant ist als die Frage, wer was gesagt hat. Die Glaubwürdigkeit der Sätze ändert sich dadurch ständig“, so der groß gewachsene Schauspieler.

Zu viel Vorwissen führt mich eher weg vom Moment, den ich auf der Bühne suche.

Michael Wächter, Schauspieler

Die Tatsache, dass es sich sowohl bei „Ellen Babić“ als auch bei „Egal“ um zwei gut gebaute Stücke handelt, „mit reifen und vollen Figuren“, so Michael Wächter, bringt uns auf das Thema well-made play und die Frage, was sich hinter diesem Begriff überhaupt verbirgt.

„Das kommt alles so well-made daher, ist es aber gar nicht“, wirft Dörte Lyssewski ein. „Dadurch, dass die Sätze mögliche Spuren immer wieder verwischen, nimmt der Grad der Verunsicherung stetig zu, nicht ab. Wenn es etwas gibt, was mich am Theater anödet, dann ist das diese extreme Harmlosigkeit, die immer mehr um sich greift. Ich mag es, dass Marius von Mayenburg in diesen Stücken eben keine dem Zeitgeist entsprechenden Antworten gibt. Immer nur abzufeiern, was man eh schon weiß, finde ich langweilig.“

Michael Wächter
Michael Wächter geboren 1986 in Leipzig, studierte an der Roosevelt High School of the Performing Arts in Kalifornien und an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Er war am Nationaltheater Weimar und zuletzt am Münchner Residenztheater engagiert. Beim Berliner Theatertreffen 2017 wurde er mit dem Alfred- Kerr-Darstellerpreis ausgezeichnet.

Foto: Christoph Liebentritt

Wer Dörte Lyssewski ein wenig kennt, weiß, dass Langeweile und Routine nicht unbedingt zu ihren Lieblingsumständen gehören.

„Wenn ich mit mir, meinen Partnern und der Regie nichts erleben kann, dann gehe ich gar nicht erst hin. Dieser Beruf kann so schnell langweilig werden, wenn es um Sicherheit, irgendwelche Effekte oder Eitelkeiten geht.“ Für sie stehe vielmehr im Vordergrund, niemals mit sich zu geizen und dem Publikum etwas zuzumuten – nicht nur zuzutrauen. Kurz: nicht zimperlich zu sein.

Ich musste wirklich lachen beim Lesen, weil ich mich so ertappt gefühlt habe.

Thomas Jonigk, Regisseur, Autor und Chefdramaturg

„Ich glaube, dass es bei diesen Stücken wichtig sein wird, auf der Bühne nicht langsamer zu sein als das Publikum – also eine gewisse gedankliche Geschwindigkeit herzustellen, die die Leute dranbleiben lässt“, sagt Michael Wächter und setzt nach, dass sich all diese Dinge natürlich erst im Laufe der Proben herausstellen werden.

Zur Qualität der Stücke möchte Thomas Jonigk noch Folgendes anmerken: „Für mich sind das zwei sehr einladende Texte, die unterhalten, gleichzeitig aber auf so hohem sprachlichen und intellektuellen Niveau verfasst sind, dass sie alles andere als flach daherkommen.“

Was denn das Schöne daran sei, fest in einem Ensemble zu sein, wollen wir am Ende noch wissen. Michael Wächter muss nicht lange überlegen – auf unaufgesetzt lässige Weise antwortet er: „Zusammen ist alles besser als alleine. Außer Meditieren vielleicht. Oder Zähneputzen."

Ob Dörte Lyssewski vielleicht noch einen Tipp für den Neo-Wiener Michael Wächter hat? Sie lacht. „Verbales Mäandern dechiffrieren zu können ist wichtig.“ Darüber hinaus könnte es essenziell sein, im Kopf zu behalten, dass den Wiener*innen das Theater alles andere als „egal“ ist. Auch nicht „scheißegal“ und schon gar nicht „wurscht“. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wird das auch bei diesen beiden Stücken der Fall sein.

Hier zu den Spielterminen von Egal und Ellen Babić im Akademietheater!