„Am Ende des ersten Probentags sind wir auf die Bühne gegangen. Ich glaube, Lucia hat damit ihren eigenen Rekord gebrochen“, sagt Jonas Hackmann und blickt Lucia Bihler dabei lachend von der Seite an. Rekordverdächtig ist auch, wie viele Räume aufgehen, wenn die Regisseurin – „immer tagsüber, so selten wie möglich abends“ – auf der Probebühne zu arbeiten beginnt. Eine Vielzahl an Räumen in nur einem – meist karg ausgestatteten – Probenraum?

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Das klingt nicht nur magisch, sondern ist es auch. Diese magische Qualität ist der Probebühne jedoch nicht eingeschrieben, sondern muss erst einmal herbeigezaubert werden. Und dafür ist die in München geborene Regisseurin Spezialistin – für Theatermagie im Allgemeinen und für Probenzauber ganz besonders. Die Hauptzutaten zur Umsetzung dieser Zauberformel lauten: Offenheit, Freiheit und Improvisation.

„Wir improvisieren oft sehr lange am Stück. Das kann sehr anstrengend sein, gleichzeitig ist es aber auch total lohnenswert, weil man in sämtliche absurde Ecken abbiegen kann, um diese auszuleuchten“, erklärt Jonas Hackmann, der auch schon zum Ensemble von „Die Eingeborenen von Maria Blut“ gehörte. „Ich glaube einfach total an die Intuition von Spielenden“, hält die Regisseurin fest. „Ich leite die Improvisationen zwar, setze Grundüberschriften fest und gebe immer wieder neuen Input, aber vieles ergibt sich auch einfach automatisch. Vor allem all jene Ideen, die sich niemand am Schreibtisch ausdenken kann – und das sind genau die Dinge, die mich interessieren. Ich bin immer für die beste Idee im Raum.“

Die Verwandlung Burgtheater
Paulina Alpen in „Die Verwandlung“ im Akademietheater.

Foto: Marcella Ruiz Cruz

Rahmen sprengen

Die Voraussetzung für diese Freiheit sei ein möglichst angstarmes Arbeitsumfeld, ist Lucia Bihler überzeugt. Und gegenseitiges Vertrauen. „Nach zwei Wochen Probenzeit kann man einfach schon auf unfassbar viel unterschiedliches Material zurückgreifen“, wirft Jonas Hackmann ein. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Wenn keine Fantasie angeht, kann ich schnell das Interesse verlieren. In der Zusammenarbeit mit Lucia ist das nicht so. Man hat das Gefühl, dass alles passieren und man jeglichen Rahmen sprengen kann, um diesen dann wieder mit Lucia und dem Ensemble zusammenzusetzen.“

Das Credo könnte also lauten: Sämtliche Rahmen dürfen gesprengt werden, solange das Fundament des gegenseitigen Vertrauens frei von Rissen bleibt.

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Zur Person: Lucia Bihler

Lucia Bihler, geboren 1988 in München, studierte Regie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und widmete sich in einem Mastersemester bei Wanda Golonka der Choreografie. Ihre Inszenierung des Romans »Die Hauptstadt« von Robert Menasse am Schauspielhaus Wien wurde zum Münchner Festival »radikal jung« 2019 eingeladen. Zwischen 2019-2021 war Lucia Bihler Hausregisseurin und Teil der künstlerischen Leitung an der Volksbühne Berlin.

Damit kommen wir (auch schon) zur zentralen Frage des Artikels: Was hat Lucia Bihler eigentlich vor? Gemeinsam mit ihrem Team und einem fünfköpfigen Ensemble bringt sie Franz Kafkas Novelle „Die Verwandlung“ auf die Bühne des Akademietheaters. „Kafka begleitet mich künstlerisch schon sehr lange. In der Abgründigkeit seiner Geschichten liegt eine große Inspiration für mich. Für ihn wichtige Themen wie Entfremdung, Unterdrückung und der Wunsch, sich daraus zu emanzipieren, beschäftigen mich auch in den meisten meiner Arbeiten sehr“, steckt die Regisseurin ihre Verbindung zu dem 1924 verstorbenen Autor ab.

Die Verwandlung“ ist für sie eine starke Metapher und auch deshalb reizvoll, weil Kafka, der in ihrer Inszenierung auch auftritt, die Frage danach, was der verwandelte Gregor Samsa nun tatsächlich ist, nie beantwortet. „Ich fände es schön, das Publikum auf eine Reise mitzunehmen, die Fragen aufwirft, aber keine eindeutigen Antworten liefert. Das würde Kafka, der ja ein Meister darin war, kluge Fragen zu stellen, auch nicht gerecht.“

Zur großen Frage, wie der verwandelte Gregor Samsa in ihrer Inszenierung aussehen wird, sagt sie: „Für mich war von Anfang an klar, dass Gregor menschlich bleiben muss, weil es mir wichtig ist, dass man emotional mit der Figur mitgehen und ihr mit Empathie begegnen kann.“ Außerdem steht fest: Vorwissen in Sachen Kafka braucht man für die Inszenierung nicht. „Im besten Fall ist sie so sinnlich, dass sowohl jemand, der noch nie etwas von Kafka gehört hat, als auch jemand, der seine Dissertation über ihn geschrieben hat, davon mitgerissen wird.“

Bibiane Beglau

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Geniekult abschaffen

Jonas Hackmann wird in der Inszenierung als Franz Kafka auf der Bühne stehen, wie auch den stimmlichen Part von Gregor Samsa übernehmen, der von der Schauspielerin und Choreografin Paulina Alpen verkörpert wird. Die Figur auf zwei Spieler*innen aufzuteilen, erschien Lucia Bihler unter anderem deshalb naheliegend, weil sich Gregor in Kafkas Text zwar nicht mehr mithilfe der menschlichen Sprache ausdrücken kann, aber noch wie ein Mensch zu denken imstande ist. „Es macht total Spaß, auszuloten, inwieweit sich Gregor seinen Gedanken widersetzt und wann er ihnen folgt“, fasst sie zusammen.

Lucia Bihlers Arbeiten zeichnen sich meist durch extreme ästhetische Setzungen aus. „Innerhalb dieses Rahmens hat man dann aber sehr viel Freiheit“, hält sie fest. Dabei wird die mehrfach ausgezeichnete Regisseurin auch gern schon früh sehr konkret, macht schnell Durchläufe, „weil es einen zwingt, sich Grundsatzfragen zu stellen und Regeln zu finden.“ Gleichzeitig findet sie es wichtig, auch als Regieperson den Mut zu haben, offen zuzugeben, dass man etwas (noch) nicht weiß. „Bis dorthin war es allerdings ein langer Weg, was wiederum mit dem immer noch präsenten Geniegedanken zusammenhängt. Der gehört meiner Meinung nach abgeschafft, weil er die gemeinsame Suche blockiert. Ich für mich habe herausgefunden, dass ich Dinge immer erst sehen muss, um etwas dazu sagen zu können“, so Lucia Bihler.

Jonas Hackmann, der sich – wie etwa auch schon bei „Die Eingeborenen von Maria Blut“ – auf der Bühne gerne körperlich an Stoffen abarbeitet, kommt diese Herangehensweise sehr entgegen. „Lucias Arbeitsweise erfordert eine hohe Wachheit, sowohl geistig als auch körperlich. Das mag ich sehr.“ Und eine Durchlässigkeit, von der der (vermeintlich) bepanzerte Samsa in Kafkas Novelle nur träumen kann.

Obwohl zum Zeitpunkt unseres Gesprächs viele Fragen noch offen sind, lässt sich eines bereits mit ziemlich großer Sicherheit sagen: Mit ihrer Arbeitsweise trägt Lucia Bihler dazu bei, auch das teilweise etwas behäbig anmutende Theaterwesen ein Stück weit in etwas anderes zu verwandeln. Stichwort: Probenzauber.

Zur Person: Jonas Hackmann

Wurde 1993 geboren und absolvierte sein Schauspielstudium am Thomas Bernhard Institut des Salzburger Mozarteums. Noch während des Studiums spielte er am Düsseldorfer Schauspielhaus, später gastierte er unter anderem am Theater Münster. Am Burgtheater, wo er seit der Spielzeit 2022/23 Ensemblemitglied ist, debütierte er in „Ingolstadt“.

Zur Person: Die Verwandlung

Die im Jahr 1912 geschriebene und 1915 veröffentlichte Erzählung handelt von Gregor Samsa, dessen plötzliche Verwandlung in ein nicht näher definiertes Ungeziefer dazu führt, dass er aus seinem familiären Umfeld ausgeschlossen wird. „Die Verwandlung“ gehört zu den am meisten zitierten und interpretierten Texten Franz Kafkas.