Warten auf Godot“ hatte ich sicher zehnmal gelesen, bevor ich das Stück auf der Bühne sah. Lange Dialogpassagen zwischen Vladimir und Estragon konnte ich auswendig hersagen. Vor vielen Jahren irgendwann zeigte das Fernsehen das Stück, Heinz ­Rühmann spielte den Estragon.

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Unser Sohn Lorenz war sechs Jahre alt, Monika und ich saßen mit ihm vor dem Fernseher, wir kamen gar nicht auf den Gedanken, das könnte ihn interessieren. Er war ein sehr lieber Bub, machte nie Aufruhr, wenn er ins Bett gehen sollte. Diesmal sagte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, er wolle das bitte sehen, er wolle es unbedingt sehen. Sein Gesichtchen war so verzaubert, dass wir – wieder – nicht auf den Gedanken kamen, ihm seinen Wunsch nicht zu erfüllen. 

Pures erstes Staunen

Lorenz war hingerissen von dem, was er sah und hörte. Wir betrachteten ihn, fast ehrfürchtig betrachteten wir ihn, wir sahen pures erstes Staunen. Monika und ich haben oft über diesen Fernsehabend gesprochen, auch mit Lorenz haben wir darüber gesprochen, noch als er längst ein erwachsener Mann war.

Das Stück ist bedingungslos, ein Mensch muss nicht mehr wissen, als wie man atmet, um es zu verstehen. Aber das Wort „verstehen“ trifft ja gar nicht zu. Es gibt nichts zu verstehen bei diesem Stück. Wollte ich pathetisch sein, würde ich sagen: „Warten auf Godot“ ist das erste Theaterstück, nein, das erste Stück Literatur, das uns Menschen gegeben wurde, gleich nachdem wir aus den knetenden Händen Gottes entlassen wurden. Ja, ich wundere mich, dass sich Henrik Ibsen mit seinen Stücken, Molière, Ferdinand Raimund, Racine, Shakespeare, Sophokles, Euripides, Aischylos, dass diese Dichter sich zeitlich vor Samuel Beckett reihen. 

Auf beunruhigende Art glücklich durch Beckett

Gestern habe ich mir „Warten auf Godot“ wieder einmal vorgenommen, mit anfangs klammen Gefühlen: Wird es halten? Das kennen wir doch – in unserer Jugend hat uns ein Buch über alle Maßen gefallen, und dann, zwanzig Jahre später, lesen wir es wieder und fragen uns: Was war das damals? Was war mit mir los damals?

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Das Buch hat der Zeit nicht standgehalten. In meiner Studentenzeit liebte ich zwei Bücher besonders, Jean-Paul Sartres „Das Spiel ist aus“ und „Der Fremde“ von Albert Camus; ersteres, so urteilte ich schon ein paar Jahre später, ist ein unseliger Kitsch; die Erzählung „Der Fremde“ aber gefiel mir sogar noch besser, sie ist große ­Literatur, die bleibt. Und als ich gestern den „Godot“ wieder las, war ich am Ende wieder auf diese merkwürdige, beunruhigende Art glücklich, wie ich es vor so vielen Jahren gewesen war. 

Das Stück ist geschrieben worden, noch bevor die Schöpfung ganz ausgesprochen war. Es steht mit einem Bein noch im ­unaus­sprechlichen Drüben, mit dem anderen herüben in unserer Welt."

Michael Köhlmeier über Samuel Becketts „Warten auf Godot"

Ich rief meinen Sohn an. „Erinnerst du dich, als wir im Fernsehen ‚Warten auf Godot‘ gesehen haben mit Heinz Rühmann als Estragon?“, fragte ich. Lorenz lachte. „Ich glaube, ich wäre nicht der, der ich bin“, sagte er.

Ich weiß nicht genau, was er damit meinte. Der Satz war so abschließend gesagt, dass ich nicht daran herumbasteln wollte. Und dann dachte ich, es könnte ein Satz von Beckett sein. Viele der Sätze von Samuel Beckett sind halbe Sätze, halb nicht in einem grammatikalischen Sinn gemeint, sondern in einem Sinn-Sinn. Ein Satz verlangt nach einem nächsten, aber der wird nicht ausgesprochen. Es ist, als suche der Satz in der Welt draußen nach seiner Ergänzung, ­seiner Ver­vollständigung.

„Ich glaube, ich wäre nicht der, der ich bin …“ Wenn was? Wenn er sich nicht mehr an unseren Fernsehabend vor dreißig Jahren erinnerte? Oder wenn er „Warten auf Godot“ nie gesehen hätte, gar nicht kennte? Wollte ich pathetisch sein, würde ich sagen: Das Stück ist geschrieben worden, noch bevor die Schöpfung ganz ausgesprochen war. Es steht mit einem Bein noch im unaussprechlichen Drüben, mit dem anderen herüben in unserer Welt. 

Der Begriff des Komischen erst zur Hälfte ausgeschlüpft

Schluss mit dem Pathos! – Die schönste Aufführung von „Warten auf Godot“ habe ich in den Achtzigerjahren in Dublin auf einer Studentenbühne gesehen. Der Regisseur hat das Stück als reine Oberfläche inszeniert. Kein deutscher Tiefsinn, keine Pseudo-Metaphysik. Pure Clownerie. Vladimir und Estragon waren wie Donald Duck und Charlie Chaplin, zwei tapfere Kerlchen, die sich gegen den Unfug zur Wehr setzen, den die Dinge – dazu zählt eigentlich alles – aufführen. Nicht sie sind Narren, sondern die Welt hält sie zum Narren. Das Publikum hat gebrüllt vor Lachen. Und ich auch.

Beckett ist komisch. Ja, es ist komisch, wenn drei Personen in mannshohen Urnen stecken und sich unterhalten – wie in dem Stück „Spiel“ –, und es ist komisch, wenn es knapp vor Schluss in einer Regieanweisung heißt: „Spiel zu wiederholen.“ Ja, es ist komisch, wenn Winnie, „eine etwa 50-jährige, gut erhaltene Blondine“, langsam im Sand versinkt und sich dabei mit ihrem Mann Willie unterhält, der irgendwo hinter dem Sandhügel sitzt, aber nichts sagt – wie in dem Stück „Glückliche Tage“. Ja, es ist komisch, wenn in dem Dreißig­sekundenstück „Atem“ nichts weiter geschieht als Einatmen und Ausatmen. Aber auch der Begriff des Komischen ist hier erst zur Hälfte ausgeschlüpft. Und das heißt, er weiß selbst noch nicht um seine Bedeutung. Nur wenig muss geschehen, und aus dem Komischen wird das Tragische. 

Endspiel ist fürwahr das „Endspiel“. In diesem 1957 entstandenen Stück, das zum ersten Mal in London aufgeführt wurde, wird uns von der Entgleisung des Komischen erzählt. Entgleisung heißt zuvorderst, wir werden sinnlos – besser: sinnenlos. Hamm, der Tyrann, ist lahm und blind, er dirigiert seinen Ziehsohn Clov vom Rollstuhl aus, seine Eltern sind in Mülltonnen verstaut. Das ist also aus den lustigen Erwartungen geworden? „Endspiel“ ist die Fortsetzung von „Warten auf Godot“, besser: die End-setzung. Ein Ende wird gesetzt. Und das Ende ist ähnlich dem Anfang: weder ganz komisch noch ganz tragisch, Komödie als Möglichkeit, Tragödie als Möglichkeit.

Zum zwanzigsten Geburtstag von Lorenz, das war vor fünfzehn Jahren, schenkte ihm Monika die gesammelten Werke von Samuel Beckett in der hübschen blauen Suhrkamp-Ausgabe. Gestern am Telefon sagte er mir, er lese immer wieder darin, auch in den Romanen „Molloy“, „Malone stirbt“, „Der Namenlose“ oder in „Murphy“. Ganz besonders liebe er die kurzen Texte wie „Mehr Prügel als Flügel“ oder „Erzählungen und Texte um Nichts“. Lorenz ist Maler. Er sagt, die Unfertigkeit dieser Texte empfinde er wie eine Aufforderung an ihn, sie zu Ende zu malen.

Lorenz, das war vor fünfzehn Jahren.

Michael Köhlmeier

Schriftsteller, 70 Jahre 
Letzte Veröffentlichungen: „Bruder und Schwester Lenobel“, Roman, Hanser Verlag, „Die Märchen“, Hanser Verlag

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