Ein großes Wimmelbild voller Menschen, die nebeneinandersitzen und nach vorne blicken – und man selbst ist mittendrin. Was wie eine lebendig gewordene Fantasie klingt, wird derzeit über einen Sommer lang Realität bei den Salzburger Festspielen 2024.

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Im neuen Stück von Rimini-Protokoll „Spiegelneuronen“ kann man Teil eines solchen Bewegtbildes werden.

Die Idee ist schnell erklärt: die Zuschauer*innen setzen sich zu Beginn wie gewohnt auf ihre Plätze. Doch anstatt einer Bühne steht ihnen gegenüber ein großer Spiegel.

Im Laufe des Abends werden – gepaart mit einer Collage von Text, Sound und Musik – Bewegungsimpulse von Tanzenden der Sasha Waltz & Guests Company gesetzt, die ebenfalls in den Zuschauer*innenreihen sitzen. Das 500-köpfige Publikum in der Szene Salzburg kann während des Abends ebenfalls Impulse abgegeben.

So gleicht kein Abend dem anderen.

Der Wimmelbild-Vergleich kommt von Regisseur Stefan Kaegi, den wir fürs Interview kurz vor der Premiere per Zoom erwischen. „Man verändert sich und setzt Impulse, man nimmt sich selbst im großen Bild als passiv oder aktiv wahr. Es ist möglich, nicht wahrgenommen zu werden, wenn man will, aber man wird gesehen. Niemand ist nicht Teil des Bildes oder des Experiments“, so Kaegi über die Rolle der Zuschauer*innen.

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„Es gibt auch keine klaren Instruktionen, was man zu tun hat. Es werden eher über das Zuhören oder über das Zusammensein bestehende Bedürfnisse ausgedrückt. Das ist eigentlich auch eine Gesellschaftsstudie, die dieses Stück mitermöglicht.“

Der Sound des Gehirns

Wie man so eine Idee verwirklicht? „Die Anfangsfrage des Stückes war: Können wir gemeinsam in so einem Saal, wo wir alle frontal bestuhlt nach vorne schauen, gemeinsam etwas zum Leben erwecken, das ein bisschen so funktioniert wie ein großes Gehirn?“

Doch wie probt man, wenn das Publikum ein so wesentlicher Teil der Performance ist?

Kaegi überlegt kurz.

„Die Frage hat mich tatsächlich in ihrer Größe beschäftigt. Deshalb haben wir immer wieder kollektiv an Sound, Licht, Video und Bewegungen gearbeitet und präzisiert und sehr genau Strukturen auf der Ton- und Lichtebene vorgegeben."

Die Tonspur wurde dabei im Gesichtspunkt verschiedener wissenschaftlicher Erkenntnisse – Neuro-, Kultur- sowie Sozialwissenschaften – entwickelt. Die Text- und Musikcollage, die während des Abends Teil der Performance ist, diskutiert neurologische Erkenntnisse und erzählt davon, wie sich das Subjekt in der Gesellschaft verhält. „Wir sehen also Bilder der Gesellschaft, aber auch, dass wir in so einem Bild leben“, setzt der Regisseur nach.

„Wir haben natürlich viele Gespräche mit diversen Expert*innen geführt: aus der Soziologie, Biologie, aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz und aus der Entwicklungsbiologie. Fragen über Ethik, Fragen nach den großen, kollektiven Körpern.“ Daraus entwickelte sich dann die Tonspur, wie sie heute steht.

Mit dem Publikum wachsen

Geprobt wurde schon länger, genauer seit April 2023. Über ein Jahr also wurden neue Versuchsanordnungen an Zuschauer*innen probiert und alles, was an einem Abend passieren könnte, antizipiert. „Das war sehr spannend zu beobachten, denn es gab sehr unterschiedliche Momente und es war meistens so, dass sich ein großer Teil des Publikums ähnlich bewegte.“

Helgard Haug Porträt

Helgard Haug im Porträt

Helgard Haug ist Autorin, Regisseurin und Mitbegründerin des Theaterkollektivs Rimini Protokoll. Ihre Arbeiten wurden bereits mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Derzeit ist ihre Fassung von Brechts „Kaukasischem Kreidekreis“ bei den Salzburger Festspielen zu sehen. Ein Porträt. Weiterlesen...

Produziert von Sasha Waltz and Company wird so ein Abend der anderen Art auf die Beine gestellt. „Aber wie sich dann tatsächlich unser Spiegelobjekt, das Publikum, bewegen wird, das konnten wir nur annehmen, indem wir ein oder zweimal die Woche Testzuschauer*innen eingeladen haben. Sie haben uns immer wieder neu überrascht. Und so haben wir gelernt, uns weiterentwickelt und auch inhaltliche Veränderungen übernommen.“

Spieglein, Spieglein

Wir kommen auf den Begriff der Spiegelneuronen zu sprechen. „Die Frage der Identifikation ist eine zentrale, weil es seit den 90er-Jahren mit den Spiegelneuronen in der Neurowissenschaft ein Denkmodell gibt, das erklärt, dass man sich empathisch in jemanden hineinversetzt. So funktioniert das mit den Spiegelneuronen“, holt Kaegi aus.

Im dokumentarischen Tanzabend begegnet dem Publikum dabei nicht nur eine Person, sondern ein großer, kollektiver Körper, der sich spiegelt.

So lag der Titel der Perfomance auf der Hand, würde man meinen. Dieser kam jedoch erst später in der Konzeption des Stückes auf, verrät uns der Regisseur.

Man sieht nach vorne und man bewegt sich nicht, aber ähnliche Gehirnregionen werden aktiviert, als würde man selbst tanzen.

Stefan Kaegi, Regisseur

„Die drei zentralen Ideen zum Stück waren tatsächlich folgende: Erstens, wie können wir ein Stück machen, sodass wir alle gemeinsam mit dem Publikum in Bewegung geraten und dass unsere Bewegung zu Tanz wird. Zweitens“, zählt Kaegi auf, „die Einbindung der Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die mich sehr interessieren, über dezentrale Prozesse im Gehirn. Die dritte Idee war der Versuch, es über den großen Spiegel zu spielen. Der Titel kam später.“, schließt er.

Stefan Kaegi glaubt besonders an das Zusammenleben an sich und das Zusammenkommen von Menschen im Theater. Die Thematik der Spiegelneuronen interessieren ihn als etwas, damit er verstehen kann, wie wir uns bewegen. „Und das, was über Spiegelneuronen geschrieben wird, ist ein einfacher Grund, warum sich Leute für Tanz interessieren,“ erklärt Kaegi weiter. „Man sieht nach vorne und man bewegt sich nicht, aber ähnliche Gehirnregionen werden aktiviert, als würde man selbst tanzen.“

Gesellschaftsstudie als Tanzabend

Hier wird der Spiegel Teil der Entlarvung und Selbstreflexion. „Das, was man an diesem Abend als Zuseher*in erleben kann, ist, dass wir nie allein entscheiden. Dass wir andere rein neurologisch gesehen permanent in uns abbilden. Deshalb ist das, was unser subjektiver Schluss ist, eben doch sehr geprägt von dem, was um uns geschieht.“

Ob er einen Wunsch ans Publikum hat, fragen wir den Regisseur gegen Ende des Interviews.

„Kann ich nicht so sagen,“ antwortet er, nach kurzem Überlegen. „Ich hoffe, sie kommen mit vielen Gefühlen heraus und dass sie sich in gewisser Weise darauf einlassen. Man hat im Theater selten die Gelegenheit, sich selbst zu bewegen, also das ist ein Abend für Menschen, die es tun wollen.“

Also worauf noch warten?

Hier kommen Sie zu den Spielterminen von Spiegelneuronen bei den Salzburger Festspielen!