BONES and STONES: Kein Stein bleibt auf dem anderen
Was haben Steine und Knochen miteinander zu tun? Inwiefern ist Zerfall immer auch ein Neuanfang? In Claudia Bosses „Bones and Stones“ nähern sich die Zuschauer*innen diesen Fragen in einem begehbaren Parcours an.
Wenn Claudia Bosse an einem neuen Projekt arbeitet, legt sie zunächst Materialfelder an. Sie bringt eine fruchtbare Erdschicht auf und darauf Saatgut aus, bis irgendwann erste Pflänzchen aus dem Boden wachsen und sich dieser zusehends verdichtet. Wenn sie sich durch ihre Felder bewegt, ist sie auf fragilem und stets durchlässigem Grund unterwegs.
Claudia Bosse: Wenn alles möglich ist
In „Oracle and Sacrifice in the woods“ setzt Claudia Bosse sich selbst, ihre Performer*innen und ihr Publikum der Natur aus. Getreu dem Motto: Kein Theater. Alles möglich. Weiterlesen...
Es könnte nun der Eindruck entstanden sein, die 1969 geborene Choreografin, Performerin und Regisseurin hätte den Beruf gewechselt. Das stimmt nicht, doch ihre aktuelle Arbeit „BONES and STONES“, die ab 23. Februar im Tanzquartier Wien zu sehen ist, legt einen solchen Vergleich nahe – in all seiner Bildlichkeit. Doch dazu gleich mehr.
Außerdem sprach Claudia Bosse, die uns zum Gespräch in die Proberäumlichkeiten des von ihr mitgegründeten theatercombinats eingeladen hat, im Kontext ihres Arbeitsprozesses tatsächlich von „Materialfeldern“ wie auch von der Notwendigkeit, irgendwann mit dem Graben nach neuen Zusammenhängen aufzuhören. Schließlich würde jeder einzelne Stein, den man in diesem Prozess umdreht, wieder neue Richtungen eröffnen, sodass der Weg zur Premiere ein immer verschlungenerer wird. „Irgendwann beginnt man Entscheidungen zu treffen und diese Entscheidungen bringen wieder neue Resonanzräume mit sich. Daraus verdichtet sich dann, was schlussendlich diese Arbeit sein wird“, ergänzt Claudia Bosse.
Zerfall als Neuanfang
Doch nun zurück zu „BONES and STONES“, einer choreografischen Erzählung, die sich in ebenjenem Verdichtungsprozess befindet, während wir es uns mit einem Kaffee in den Probe- und Arbeitsräumen gemütlich gemacht haben. Das schichtweise Durchdringen einer Ansammlung von Materialien spielt nämlich auch hier eine entscheidende Rolle. „Über meine letzte Arbeit, ‚Oracle & Sacrifice in the Woods‘, habe ich damit begonnen, mich dafür zu interessieren, was unter der Oberfläche passiert und was die Substanz der Steine, die wir als sehr statisch wahrnehmen, eigentlich ausmacht“, so die Choreografin und Performerin. Darüber hinaus beschäftigte sie sich mit Zerfall und Verfall als Neuanfang. „So fing ich an, mich zu fragen, welche Art von Verbindung es zwischen unseren Knochen und den Steinen gibt.“
Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Bei all unserem Streben nach Orientierung und Stabilität, ist das Bewusstsein dafür verloren gegangen, dass wir auf einem Grund unterwegs sind, der sich bewegt. Die Erdplatten verschieben sich und jeder Stein, den wir in der Hand halten, war einmal flüssig. Steine sind Nomaden, die von ihrer Herkunft abgelöst wurden. Das eröffnet eine ganz andere Dimension, wenn es um die Vergänglichkeit, Verletzlichkeit und Porosität unserer Körper geht.“
Claudia Bosses Interesse für die Koexistenz von organischem und anorganischem Material, das sie schon in ihren letzten Arbeiten umtrieb, entstammt unter anderem der Erkenntnis, „dass wir in einer gefährdeten Landschaft unterwegs sind und wir selbst die Gefahr sind.“ Und dass jede Handlung, die wir setzen, einen Abdruck in der Umgebung hinterlässt. Darüber hinaus beeinflussten sie auch dem Animismus zugeneigte Kulturen. „In unserer westlichen, europäischen Welt sind die Dinge, die wir tun, von der Illusion der Kalkulierbarkeit, Prävention und Kontrolle geprägt. Wir glauben, dass jegliches Material keine eigene Agenda hat, sondern bloß Ressource, ist, mit der ich etwas tun kann und die ich gestalte“, führt sie aus.
Teil einer begehbaren Landschaft werden
Aus einem persönlichen Berührtsein oder der Ahnung, dass Dinge falsch laufen, entsteht bei Claudia Bosse oft der Wunsch, über größere Zusammenhänge nachzudenken. „Manchmal spürt man es am eigenen Körper, dann wieder im Verhältnis der Körper zueinander“, wirft sie ein. Das Gefühl einer Notwendigkeit, das sich über die eigenen fünf Sinne seinen Weg ins Bewusstsein bahnt, möchte sie handhabbar machen, „damit es nicht in einem erstickt“.
Daher versuche sie sich zu öffnen – unter anderem für Erzählungen. Sogleich hat sie ein Beispiel parat: „Ich habe mit einer Frau gesprochen, die mir erzählt hat, dass sie wegen des Vulkanausbruchs im vergangenen Jahr nicht böse sei, sondern dankbar, dass der Regen das Brennen der Lava gelöscht hat. Es gibt also Orte, an denen man nicht davon ausgeht, dass nicht immer alles gleichbleibt, sondern dass es dynamische Prozesse gibt, die man akzeptieren und mit denen man kooperieren muss. Und dass ich als Mensch in diesem Gefüge gar nicht so wichtig bin.“
Wenn „BONES and STONES“ bei den Zuschauer*innen zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Verbindungen zwischen belebter und unbelebter Materie führen würde, fände sie das sehr schön, ergänzt Claudia Bosse lachend. „Vielleicht kann aus dieser Art von Verknüpfung ja sogar eine andere Art von gesellschaftlichem Denken entstehen.“ Daher sei ihr bei dieser Arbeit auch besonders wichtig, dass sich die Zuschauer*innen stets in der Nähe der Körper und Objekte aufhalten – sie durch eine begehbare Landschaft wandern und Teil davon werden.
Wilder und widersprüchlicher
Während die Choreografin, Performerin und Regisseurin früher vor allem von Sprache und Bewusstsein ausgegangen ist, geht es ihr nun vielmehr darum, aus dem Körper heraus zu denken. „Und nicht das Denken in die Körper zu bekommen“, setzt sie lachend nach. Dadurch ergebe sich auch ein wilderer und widersprüchlicherer Zugang zu bestimmten Themen, „weil der Körper an sich ja auch total widersprüchlich ist.“ Beweglichkeit, aber auch ein wenig mehr Unkontrollierbarkeit seien die Folge dieser Fokusverlagerung.
Der Mensch besteht zu 70 Prozent aus Wasser. Das bedeutet also, dass wenn ich mich längere Zeit an einem Ort aufhalte und das Wasser dort trinke, ich irgendwann zu 70 Prozent dieser Ort bin.
Claudia Bosse
„Aber das ist ja auch das Schöne – nicht zu wissen, was sein wird. Lust und Neugierde dem Moment gegenüber zu empfinden und darauf zu vertrauen, dass man ohnehin alles dabeihat“, bringt sie es auf den Punkt und hat auch hierfür wieder ein Beispiel parat, das auf sehr bildliche Weise auf die Verbindung zwischen Körper und Umgebung verweist: „Der Mensch besteht zu 70 Prozent aus Wasser. Das bedeutet also, dass wenn ich mich längere Zeit an einem Ort aufhalte und das Wasser dort trinke, ich irgendwann zu 70 Prozent dieser Ort bin. Gleichzeitig befinden sich in meinen Knochen Substanzen, die älter als unser Sonnensystem sind.“ Sie lacht auf eine Weise, die mitreißend und schelmisch zugleich ist.
Ob sie darüber nachdenkt, „BONES and STONES“ nach den beiden Terminen in der Halle G auch draußen stattfinden zu lassen? Sie nickt. Allerdings bräuchte sie dafür noch einen Steinbruch. „Vielleicht findet sich ja unter den BÜHNE–Leser*innen jemand, die*der einen solchen besitzt“, sagt sie, bevor sich unsere Wege wieder trennen. Das ist übrigens durchaus als Aufruf zu verstehen.