Zwischen „Ich habe gesiegt“ und „Ich bin nicht besiegt worden“ liegt wie zwischen Nord- und Südpol die Weite unserer begehbaren Welt. Der erste Satz gehört den Starken, für die bis zum Werbefernsehen herunter seit Jahrzehnten der Zeitgeist seine Empfehlungen abgibt, von denen er predigt, als wären sie Kandidaten für die Heiligsprechung.

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Der zweite Satz wird selten ausgesprochen. In Zeiten, in denen Sieg und Niederlage nicht über Sein und Nichtsein entscheiden, sondern schlimmstenfalls über Sich-Blamieren und Sich-nicht-Blamieren, kommt dem Sieger allmählich alles Menschliche abhanden. Er blutet nicht, wenn man ihn sticht, er lacht nicht, wenn man ihn kitzelt, er stirbt nicht, wenn man ihn vergiftet, und er hat es nicht nötig, sich zu rächen, wenn man ihn beleidigt.

Dem Sieger in nichtkriegerischen Zeiten darf alles zugemutet werden. Der Zeitgeist erlaubt keine halben Sieger. Halbe Sieger sind Optimierer, sie haben immer etwas vor sich. Sieger dagegen sind angekommen. Sie sind das ultimative Vorbild. An ihnen gibt es nichts zu verbessern. Der Halbsieger aber ist ein ewig Unglücklicher. Vor seiner Nase hängt die Karotte, in die tätowiert ist: Es reicht nicht.

Und dann ist da die große Masse jener, die nicht einmal Halbsieger sind. Die Shylocks, die bluten, wenn man sie sticht, die lachen, wenn man sie kitzelt, die sterben, wenn man sie vergiftet, und die sich rächen wollen, wenn man sie beleidigt. Jene, die den Optimierungswettlauf aufgegeben haben. Die am Optimierungswettlauf erst gar nicht teilgenommen haben. Weil sie einen Schmerbauch vor sich herschieben, weil sie zu viel rauchen, zu viel trinken, zu wenig sich bewegen, zu neidisch sind, zu faul sind, zu ungebildet sind, ungerecht sind, unfair, schlecht gelaunt, unausgeschlafen, missgünstig, geizig, kleinlich. – Also wir. Im günstigsten Fall haben wir die Nulllinie erreicht. Und wenn? Wer kann mehr von uns verlangen? Der Zeitgeist?

Wer ist das?

Es war einmal ein Mann, der hieß Christian Adolph Klotz, er lebte in der Mitte des 18. Jahrhunderts und war Professor für „Philosophie und Beredsamkeit“ an der Universität in Halle. Und er prägte den Begriff genius seculi, der sich ohne Substanzverlust in „Zeitgeist“ übersetzen lässt. Johann Gottfried Herder, der klassische Kulturphilosoph schlechthin, Vorbild und Freund von Goethe und Vorläufer jener Wissenschaft, die man heute Ethnologie nennt – Herder jedenfalls spricht in seiner Polemik gegen Christian Adolph Klotz von „Zeitgeist“, und damit hielt dieser Begriff Einzug in unsere Sprache.

Schon Herder findet am Zeitgeist nichts Gutes, er sei wie Blei, schreibt er. Er verführe die Menschen dazu, auf die ihnen von der Natur gegebene Freiheit des Denkens zugunsten eines augenblicklichen Schulterklopfens zu verzichten. Und nicht nur das: Er beklagt ferner, dass sich dieser „flatterhafte Geselle“ an die Stelle der Zehn Gebote setze. Herder war Theologe, und als solcher zweifelte er nicht an der Achse zwischen Gottes Wille und dem Gewissen des Menschen. Diese Achse werde Moral genannt, und die unterwerfe sich keinem Zeitgeist.

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Christian Adolph Klotz war ein Moderner. Nicht unbedingt ein großer Moderner wie der um vierzehn Jahre ältere Immanuel Kant, aber ein in seiner Zeit sehr populärer Welterklärer – ein dem Geist der Zeit entsprechender, den Geist seiner Zeit repräsentierender Denker. Heute würde man ihm eine Fernsehshow anbieten. Man darf über ihn lästern, sein Denken flach finden, ihn verachten, wie es Lessing getan hat – die Welt ist nicht nur hehr und glorios, sondern vor allem banal, sie kennt nur wenige Konstanten, aber viele Moden: Und genau das hat der Professor für Beredsamkeit mit dem Begriff genius seculi gemeint. So gesehen war Christian Adolph Klotz ein Visionär. Im Schatten des großen Kant gedeiht leider nur Moos …

Der Zeitgeist ist immer modisch. Heute sagt er: „Bist du kein Sieger, so bist du gar nichts.“

Ich erinnere mich an meine Jugend, da war sein Tenor ein ganz anderer. Da waren die „Lässigen“ jene, die sich allem entzogen, was nach Wettbewerb und anerkanntem, das hieß damals „bürgerlichem“ Erfolg auch nur gerochen hat. Freisein wurde definiert als frei sein vom etablierten Zeitgeist – allerdings ohne sich bewusst zu sein, dass ebendiese Einstellung ein neuer Zeitgeist war, der sich schon bald als nicht weniger bleiern herausstellte als der alte.

Die Ausrichtung des Zeitgeistes kann man übrigens ziemlich verlässlich daran ablesen, welche Drogen er bevorzugt. In meiner Jugend wurde Marihuana geraucht und LSD geschluckt, der Geist der gnadenlosen Optimierung bevorzugt Kokain und Amphetamine.

Immer stellt uns der Zeitgeist vor die Entscheidung: Wer sind die Sieger, wer die Verlierer? Er ist nicht an der Frage interessiert: Was tun, um glücklich zu sein? Sind Sieger automatisch glücklich? Nein. Der Zeitgeist in allen seinen Ausformungen birgt die Gefahr der Sucht in sich. Wer einmal siegt, der will es immer wieder. Nach dem ersten Sieg magst du glücklich sein, bereits nach dem zweiten bist du es nicht mehr, und nach dem vierten Sieg bist du unglücklicher als nach dem dritten.

Ändert sich der Zeitgeist – und das kann sehr schnell geschehen –, dann sind ruck, zuck die Sieger von gestern die Verlierer von heute. Die lässigen Haschischraucher meiner Jugend wurden von den kokainschnupfenden Zeitgeistlingen dreißig oder vierzig Jahre später „Schnarcher“ genannt.

„Ich bin nicht besiegt worden“ – was für ein schöner Satz! Keines Siegers Haupt ist mit ähnlicher Würde umkränzt.

Der tapfere Tramp, von dem uns Charlie Chaplin erzählt, er stellt ein zeitloses Vorbild dar. Seine Ehre heißt: Ich bin immer wieder aufgestanden, ich habe mich von keiner Ideologie, von keinem Zeitgeist blenden lassen. Ich habe Schmerz empfunden, wenn ihr mich gestochen habt, ich habe gelacht, wenn ihr mir einen guten Witz erzählt habt, ich werde jammern und sterben, wenn ihr mich vergiftet, und wenn ihr mich beleidigt, dann dürft ihr euch meiner bösen Gedanken sicher sein.

Zur Person: Michael Köhlmeier

Der renommierte ­Schriftsteller mit ­Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte ­Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman  Matou