Follies: Wissen Sie nicht, wer ich einmal war?
Wie altert man in Würde? Wie altert man unsentimental? Wie verhindert man die glorifizierte Rückschau? In „Follies“, dem Meisterwerk von Stephen Sondheim, wird das alles verhandelt. Mitreißend. Zu Herzen gehend. Mit großen Hits und Stimmen.

Foto: Stefan Fürtbauer
Ganz leise müssen wir sein. Oben auf der Bühne wird an diesem Tag im Februar gerade „Die Csárdásfürstin“ geprobt. Ruth Brauer-Kvam stöckelt vorsichtig die steilen Metalltreppen runter zur Unterbühne. Drew Sarich hat es mit seinen Boots leichter, muss sich aber mehr bemühen, leise zu sein. Ruth Brauer-Kvam summt eine Melodie, die wir den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf bekommen werden: „Die Sonne geht auf, ich denke an dich. Die Tasse Kaffee, ich denke an dich. Ich will dich so, mir ist, als verlier ich den Verstand.“ Lalalala.
Das Buch, die Musik
Fast geräuschlos fotografieren wir. Ein wenig wie Geister bewegen wir uns durch die Volksoper. Es erinnert an die „Follies“-Inszenierung in Dresden von Martin G. Berger, der auch in Wien Regie führen wird. In Dresden hat er mit einem Video zu Beginn geschickt die Handlung gelenkt. Was wird er mit dem Stephen- Sondheim-Klassiker in Wien machen?
Das Stück hat ein brillant glitzerndes, tiefgehendes Libretto: Es handelt von einer Abschiedsshow im Weismann Theater, das abgerissen und als Parkhaus genutzt werden soll. Über dreißig Jahre war hier die Tanzrevue Follies zu sehen. Zur Show kommen noch einmal die Weismann Girls aus früheren Tagen zusammen. Begleitet von ihren Ehemännern erinnern sie sich während dieses Abends nicht nur an die gute alte Zeit, sondern erzählen auch von ihren aktuellen Lebenssituationen.
Aus der Zukunft ins Jetzt
Diese Ausgangssituation würde eigentlich einen schönen, nostalgisch gefärbten Bäumchen-wechsel-dich-zum-Happy- End-Abend hergeben. Ist aber nicht. Sondheim schenkt sich und dem Publikum nichts und dringt in immer tiefere psychologische Schichten ein, befragt Karrieren, lässt Lebensentwürfe in Rauch aufgehen und treibt seine Figuren zum Äußersten.
Im rosa Haus am Gürtel wird Berger seine ehemaligen Stars aus der Zukunft auf die 2020er schauen lassen. Alle Hauptrollen sind einmal jung und einmal im Jetzt besetzt. So werden sich etwa Ruth Brauer-Kvam und Juliette Khalil die Rolle der Sally teilen – einmal jung, einmal älter.
„Follies“ ist überhaupt etwas ganz Besonderes in dem Genre – weit weg von den weichgespülten Reißbrett-Musicals. Drew Sarich: „Sondheim hat ein sehr spannendes Interview ein paar Jahre vor seinem Tod 2021 gegeben, da hat er gesagt: ‚Wäre ich heute ein junger Librettist oder Komponist, würde ich wahrscheinlich keine Jobs bekommen, weil die großen Produktionen keinen Platz für kleine, feine menschliche Beziehungen haben und alles nur wirtschaftlich gerechnet wird.‘ – ‚Follies‘ ist von einer unglaublichen Musikalität. Es gibt immer den einfachen Weg oder den richtigen Weg, und Sondheim sucht den richtigen Weg. Jeder Takt fordert die Sänger*innen, man muss immer wach bleiben. Weil er sich nicht wiederholt.“

Foto: Stefan Fürtbauer
Gefangen im Wahnsinn
Während im Teil vor der Pause alles recht flüssig läuft, geht danach jeglicher Handlungsfaden verloren, und die Auseinandersetzungen zwischen den vier Hauptcharakteren werden zunehmend aggressiver ausgetragen.
Ruth Brauer-Kvam: „Es gibt keine lineare Erzählung. Es beginnt zwar mit: ‚Oh, eine Wiedervereinigung‘. Aber die Ebenen vermischen sich. Man blickt auf die Vergangenheit und versucht in die Erinnerungen einzugreifen. Es wird alles zur Revue mit der großen Frage: Wer waren wir früher, und was sind wir heute? Ich spiele die Sally, eine ganz, ganz schwierige Figur: fragil, depressiv ... Sie versucht, als sie ihre alte Liebe sieht, das hochzuhalten und sagt: Es war damals alles so großartig, mein Leben fantastisch. Es ist großartig, wie diese Menschen aufeinandertreffen und dann die Fassaden zu bröckeln beginnen.“
Drew Sarich – er spielt die alte Liebe von Sally – nickt: „Meine Rolle heißt mit Nachnamen Stein, und das nicht ohne Grund. Er ist seelisch so vernarbt, dass er eigentlich nichts mehr spüren kann. Er hat sein ganzes Leben damit verbracht, zu funktionieren. Er hat Karriere gemacht, hatte Erfolg. Er hat alles von sich ferngehalten, jedes Gefühl, das diese Karriere hätte behindern können – und dann wird er genau mit diesen Gefühlen konfrontiert. Am Ende sagt er dann: ‚Ich hasse mich. Ich mag mich nicht. Ich kann die Show nicht mehr weitersingen.‘ Das ist an sich für einen Musical-Plot ein sehr riskanter Inhalt – aber genau das kann Sondheim. Er war ein Genie.“

Foto: Stefan Fürtbauer
Wie altert man im Showbusiness?
Letztlich geht es in „Follies“ ums Altern, ums Zurückschauen, um Sentimentalitäten und Chancen, die man nicht ergriffen hat. Das ist sehr nah am echten Leben. Es trifft alle Menschen, aber Schauspieler*innen noch viel mehr, weil sie von ihrem Gesicht und ihrem Körper leben müssen – und im Scheinwerferlicht sieht man jede Falte deutlicher als beim Publikum unten im Saal. Wie gehen Sarich und Brauer-Kvam damit um? Wie sehr bewegt es sie? Wie groß ist die Angst vor fehlenden Angeboten?
Drew Sarich ist 49 Jahre alt und hat alle großen Long-Run-Rollen gesungen. Ruth Brauer-Kvam ist 53, war lange an der Josefstadt, spielt, singt und wirkt zeitlos agil. Sie sagt: „Das Alter ist ein Riesenthema in unserer Gesellschaft, auf das viele nicht hinschauen wollen. Wir versuchen, den Herbst und den Winter unseres Lebens aus unserem Leben und unserem Denken zu drängen. Ich selber will nie wieder jung sein. Weil ich, im Gegensatz zu der Rolle, die ich spiele, rein gar nichts bereue. Es war alles leiwand, so wie es war – mit all den Schwierigkeiten.“
Aber wie bleibt man fit fürs Theater, fürs Spielen und die Rollen? „Ich versuche in Bewegung zu bleiben und wach im Kopf zu bleiben. Ich umarme mein Alter. Aber ich habe es auch leichter als andere Kolleg*innen – ich inszeniere viel und bin dadurch nicht so in einer Abhängigkeit, ob ich spiele oder nicht. Wäre ich nur Darstellerin, dann wäre es schwieriger, weil die Rollen für Frauen ab fünfzig sehr rar gesät sind. Das ist nicht so leicht.“
Alter ist eine Herausforderung, die mich wach, hungrig und leidenschaftlich hält.
Drew Sarich
Neues und anderes riskieren
Drew Sarich, von dem man annehmen könnte, dass das Alter spurlos an ihm vorübergeht, weil er aussieht und singt wie immer, nickt: „Ich merke seit ein paar Jahren, dass die Stimme anders funktioniert. Ich bin dankbar, dass ich mittlerweile Rollen singen darf, die Ruhe und Timing verlangen – und Timing ist viel wichtiger, als Gewichte zu heben. Es gibt inzwischen sehr viel Wettbewerbsgesang in unserem Beruf:
Man schreibt höher, die Töne werden länger. Ich habe das jahrelang mitgemacht – aber jetzt sagt der Körper: Drew, das muss jetzt nicht mehr sein! (Lacht.) Letztendlich bekommt man mit zunehmendem Alter auch mehr Verantwortung sich selbst gegenüber. Man muss lernen, Dinge wegzulassen – Verzicht üben mit Projekten, die einem zwar Geld bringen, aber auch körperlich schaden könnten. Am Ende wird man dann von der Verantwortung angelächelt, und sie fragt: Na, war es das wert? Und ich sage dann hoffentlich laut: Ja!“
Drew Sarich denkt kurz nach, man merkt, er überlegt, ob er uns einen Gedanken, der gerade durch seinen Kopf gerast ist, erzählen soll. Er tut es:
„Ich habe so Anfang vierzig ein Angebot gehabt, im Musical ‚Hair‘ zu spielen. Aber wie soll das gehen, als über Vierzigjähriger einen Achtzehnjährigen zu singen? Ich werde nicht mit fünfzig den Tony aus der ‚West Side Story‘ spielen wollen. Mein Ziel ist es, Projekte zu suchen, die mir etwas bedeuten. Mir zu überlegen, wie ich sie dann in mein Leben bringen kann. Ich glaube, das ist eine Position, die ich mir erkämpfen muss. Denn ohne sehr viel Einsatz, sehr viel Willen und Können geht in unserem Job und auch in dieser Flughöhe wenig. Aber das ist nicht schlimm. Alter ist eine Herausforderung, die mich wach, hungrig und leidenschaftlich hält. Ich darf einfach immer etwas Neues und anderes riskieren. Ein Privileg.“

Foto: Stefan Fürtbauer
Am Anfang das Wort
Ruth Brauer-Kvam: „Es ist beeindruckend, was Drew alles gesungen hat. Das würde in dieser Fülle kein Opernsänger stimmlich aushalten. Ich habe schon viel Musical gemacht – aber nicht solche Long Runs wie Drew. Ich bin froh und glücklich, dass ich irgendwann einmal mit meinem Instrument Stimme umzugehen gelernt habe. Ich habe die ersten zehn Jahre in meinem Beruf derart falsch gesungen. (Lacht.) Meine Intonation war eine Katastrophe. Für mich war Singen erst einmal immer das Wort, und dann habe ich intonieren gelernt. (Lacht.) Das Wesentliche ist nach dem Text das Setzen von Pausen und das Gefühl dazwischen.“
Aber am Ende ist Musical, Theater und Co auch ein Geschäft. Oder?
Drew Sarich lacht und nickt: „Deswegen heißt es auch Showbusiness. Aber ich versuche, es so kunstvoll wie möglich zu machen. Man kann natürlich die Musik von Taylor Swift nehmen und eine Geschichte darum herum bauen. Oder man macht es wie Sondheim und geht ein Risiko ein. Ich finde, Letzteres ist genau das, was dem Business derzeit ein wenig fehlt.“