Keine Frage zeigt Kunstferne so deutlich und unverschämt wie diese. Da schreibt ein Autor einen Roman von dreihundert Seiten oder mehr, und dann kommt jemand daher und fragt: Was willst du uns damit sagen? Und erwartet eine möglichst kurze und bündige Antwort. Möglichst nicht länger als eine halbe Seite. Wehe, der Autor kann das! Wehe, der Autor tut das! Muss er sich dann nicht vorhalten lassen: Was bist du doch für ein Depp, schreibst in fünf Jahren womöglich dreihundert Seiten anstatt in fünf Minuten nur diese halbe! Und noch etwas kommt dazu: Was erwartet sich derjenige, der nach der Aussage eines Romans fragt?

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In den meisten Fällen, seien wir ehrlich, etwas Moralisches oder Politisches, wobei das Politische, wenn man es unter die Lupe nimmt, wieder etwas Moralisches ist. Dieses Moralisch-Politische ist dann meistens noch kürzer als zuvor die Aussage, also etwa drei Zeilen. Und wenn man diese drei Zeilen weiter befragt, was sie bedeuten, dann bleiben am Ende nur noch zwei Worte, obendrein zwei einsilbige, übrig: Sei gut! Das ganze unter Mühen und mit Lust geschriebene literarische Kunstwerk soll nichts anderes sein als eine Illustration dieser beiden Worte? Die Aussage der zehn Gebote vom Berg Sinai. Armer Dichter, armer Schriftsteller, armer Maler, armer Künstler! Für eine Aussage, die auf eine Briefmarke passt, werden Bäume gefällt, wird Marmor zerschlagen, werden Leinwände aufgespannt, werden Millionen ausgegeben für einen Film. Unverantwortlich! Also ist es im Grunde unverantwortlich, einen Roman zu schreiben, einen Film zu drehen, eine Skulptur zu meißeln. Kunst ist unverantwortlich!

Das nun ist die Conclusio, wenn verlangt wird, dass ein Künstler erklären soll, was die Aussage seines Werks ist. Solches Ansinnen ist kunstfeindlich!

Ich weiß nicht mehr wann und wo, da habe ich mir ein T-Shirt gekauft, darauf stand ‚Schön sein genügt.‘

Michael Köhlmeier, Schriftsteller

Verächtlich aber ist, wenn der Autor sich selber hinstellt und erklärt, was sein Werk aussagt. „Ich wollte damit sagen …“ Ja, warum hast du es dann nicht gesagt? Schämst du dich für deine Ausschweifung? Schämst du dich, dass du anstatt zwei einsilbiger Worte sechzigtausend Worte geschrieben hast? Oder bist du nur eingeknickt vor der Eloquenz der Kritiker? Hast du Angst, dass dein Leben als Künstler unwürdig ist, wenn dein Werk sich nicht gegen Moral tauschen lässt wie Bananen gegen Geld? Ich sage dir: Du brauchst nicht zu predigen! Ich predige hier! Aber das hier ist kein Roman, das ist ein Pamphlet.

Ich weiß nicht mehr wann und wo, da habe ich mir ein T-Shirt gekauft, darauf stand: „Schön sein genügt.“ – Bravo! Ich habe es nachts im Bett getragen in der Hoffnung, der Spruch brennt sich ein in meine Brust. Wie sehr würde ich mich freuen, wenn in einem Fernsehbericht über eine Kunstausstellung der Künstler oder die Kuratorin auf die stereotypen Fragen des Journalisten diesen Satz sagte! „Schön sein genügt!“ Noch mehr würde ich mich über das Gesicht des Journalisten freuen. Als wäre seine Mimik ein Barometer, an dem sich ablesen lässt, ob die Wertschätzung gegenüber einem Künstler steigt oder fällt. Das wissen wir ja: Wenn eine Künstlerin mit ihrer Kunst auf den Klimawandel oder das Artensterben oder den Rechts- beziehungsweise Linksradikalismus hinweisen und davor warnen möchte, dann haben wir sie lieb. Wenn sie aber einfach nur sagt, sie wolle Schönheit produzieren – dann, was dann?

Dann fällt das Barometer. Dann ist sich die Künstlerin anscheinend ihrer Aufgabe nicht bewusst. Dann ist sie oberflächlich. Aber ich sage euch: Kunst ist Oberfläche! Was ist das für ein Bullshit, die Oberfläche als etwas Oberflächliches zu bezeichnen! Die Schönheit einer Rose ist ihre Oberfläche. Was denn sonst, bitte? Die Oberfläche allein weist ins Transzendente, ins Metaphysische. Angenommen, ein Gott hat die Rose erschaffen, dann hat er nur ihre Oberfläche erschaffen und hat keine Aussage dahintergelegt. Kunst ist Form. Inhalt lässt sich so oder so darstellen. Seine schöne Darstellung ist Kunst. Jeder Inhalt lässt sich auf künstlerische Art darstellen. Oder auf unkünstlerische Art. Die Seele ist die Form.

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Zu zeigen, was der Mensch ist, scheint nicht zu genügen, es muss gesagt werden, was er sein soll. Kunst als Ersatz für Religion. Pfui Teufel! Dass mit der Ausbreitung der Bedeutung das Kunstwerk irgendwann erlischt, weil es unnötig geworden ist, dessen ist sich der interpretierende Kurator entweder nicht bewusst – oder aber doch, dann haben wir es mit dem nicht seltenen Fall zu tun, dass die Feinde der Kunst sich besonders gern an deren Rändern anlagern. Die Literaturkritikerin, die nichts mehr hasst als die Literatur – das haben wir erlebt.

Michelangelos David ist schön. Dass er den bösen Goliath besiegt hat, das muss man dazusagen, das sieht man dieser Figur nämlich nicht an. Und wer es nicht weiß, dem entgeht nichts. Es ist eine Geschichte, die sich zur Schönheit gesellt. Er kommt gerade vom Morden. Und ist schön. Die Geschichte braucht die Figur nicht, und die Figur braucht die Geschichte nicht. Die Figur sagt nicht: Schau mich an, Morden macht schön. Die Figur sagt gar nichts. Sie zeigt sich, und sie ist schön. Auch der Schmetterling will uns nichts sagen. Schönheit will sich zeigen. Wer sie sehen will, sieht sie, wer nicht, der hilft sich mit ihrer Bedeutung, wobei diese nicht aus der Schönheit entspringt, sondern aus dem Kopf dessen, dem sie allein nicht genügt.

Was ist die richtige Antwort, wenn der Autor gefragt wird, was er mit seinem Buch aussagen will? Die einzig richtige Antwort wäre, er spricht, möglichst mit ruhiger Stimme: Bitte, meine Dame, bitte, mein Herr, nehmen Sie Platz und stehen Sie erst auf, wenn ich Ihre Frage exakt beantwortet habe! Und dann liest er diesem Naseweis und dieser Naseweisin den ganzen Roman vor, vom ersten Wort bis zum letzten. Und ich bete dafür, dass der Roman tausend Seiten hat.

Zur Person: Michael Köhlmeier

Der renommierte ­Schriftsteller mit ­Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte ­Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman  Matou