Vom Arbeiten außerhalb des Horizonts
Eine Pandemie, eine Cyberattacke und ein Terroranschlag. Dennoch schafften die Bundestheater in nur dreieinhalb Monaten Spielzeit durchwegs hohe Auslastungen. Kultur funktioniert. Holding-Chef Kircher: „Das lernt man nicht in Lehrbüchern.“
Sechseinhalb Monate waren „seine“ Theater zu. Und trotzdem erreichten die Volksoper (67,3 %), das Burgtheater (68,0 %) und die Staatsoper (94,2 %) in den nur dreieinhalb Monaten, in denen 2020/21 – unter ständig wechselnden Corona-Vorgaben – gespielt werden durfte, recht passable Auslastungszahlen.
Und damit es nicht langweilig wurde, hat Christian Kircher auch noch das Burgtheater renovieren lassen (Bestuhlung, Klimaanlage, Licht- und Tonregie) und den gewaltigen Brocken eines einheitlichen Ticketings auf Schiene gebracht. In normalen Zeiten könnte man eigentlich zufrieden sein. Aber so brachen – unverschuldet – die Einnahmen ein.
Aufgrund von Schließzeit und Kapazitätsbegrenzungen konnten die Bühnen nur zwischen 30 und 40 Prozent der Einnahmen der Spielzeit 2019/20 erzielen. Der künstlerische Output hingegen ist bemerkenswert: Trotz epidemischen Ausnahmezustands wurden insgesamt 478 Vorstellungen gespielt, kamen immerhin 38 Neuproduktionen auf die Bühne.
Die Fähigkeiten, die man braucht, um in solchen Zeiten ein Unternehmen zu führen, kann man nicht lernen, die stehen in keinem Lehrbuch. Das ist so situativ und spontan."
Christian Kircher
Und: Staatsoper und Burgtheater setzten mit ihren TV-Übertragungen, Streaming-Angeboten und Online-Inszenierungen kräftige Lebenszeichen. Christian Kircher ist der Mann, der hinter den Kulissen der drei großen Häuser die wirtschaftlichen Fäden zusammenhalten und im Zweifelsfall auch den Kopf hinhalten darf.
Zusammenwachsen
Gemessen daran wirkt er im BÜHNE-Gespräch ziemlich gelassen und abgeklärt: „Die Fähigkeiten, die man braucht, um in solchen Zeiten ein Unternehmen zu führen, kann man nicht lernen, die stehen in keinem Lehrbuch. Das ist so situativ und spontan. Zum Glück gab es eine unglaubliche Solidarität zwischen den verschiedenen Häusern: vom Musikverein über das Konzerthaus bis hin zu den Vereinigten Bühnen und den Festspielen. Es war ein Zusammenwachsen. Es hat sich herausgestellt, dass wir alle ein Interesse haben, nämlich einigermaßen unversehrt durch diese herausfordernde Zeit zu kommen. Das sind Verbindungen, die bleiben werden. Und auf der anderen Seite war da diese Solidarität der Belegschaft, die viermal einer Kurzarbeit zugestimmt hat. Die haben in den letzten eineinhalb Jahren auf bis zu zwei Monatsgehälter verzichtet. Das ist ein echtes Bekenntnis zum Unternehmen.“
In einer Familienaufstellung würde dem Chef der Bundestheater-Holding vermutlich die Position des Sandwichkindes zufallen. Auf der einen Seite die Kreativen der Theater, auf der anderen Seite die Politik. Kircher kann gut mit beiden. Ihm macht aber die Zukunft Sorgen. „Die Förderungen und auch die Kurzarbeit waren großartig, hätten wir diese nicht in Anspruch genommen, dann wären wir jetzt in einer ganz anderen Situation und hätten – zu Recht – einen öffentlichen Erklärungsbedarf. Jetzt aber gibt es keine Sondertöpfe, und wir wissen einfach nicht, wie lange diese Ausnahmesituation noch anhalten wird.“
Außerhalb des Planungshorizonts
Von Christian Kirchers Büro aus kann man auf den Burggarten sehen. In der Früh werden dort die Lipizzaner ausgeführt, im Sommer sind die Wiesen voller Menschen. Wir reden über das Publikum und über die Zeit, als plötzlich Booster plus PCR-Test vorgeschrieben war: „Das war knackig, aber auch berührend, wie viele trotzdem gekommen sind. Es ist beeindruckend, wie wichtig für viele Menschen die Teilnahme an Kultur ist. Da kann man sich nur bedanken.“
Und wie sorgt man für den Nachwuchs? „Das U27-Programm der Staatsoper ist ein echter Erfolg. Ich kenne einen jungen Koch, der das nutzt, um junge Damen in die Oper auszuführen. Das berührt mich, weil die Motivation zählt und neue Leute kommen.“
Das nächste große Projekt – neben dem Ticketing – ist, das Akademietheater auf Vordermann zu bringen. Die Arbeiten starten im Sommer 2023. Christian Kircher: „Ich liebe das Akademietheater, aber der Sitzkomfort ist katastrophal, und das gehen wir jetzt an.“
Falls Corona nicht eine neue Volte schlägt. Der Holding-Chef wirkt abgeklärt: „Unser Alltag findet mittlerweile außerhalb des Planungshorizonts statt. Das ist nicht so wie am Meer, wo du den Horizont ganz hinten siehst und darauf geplant zusteuerst. Was wir derzeit tun, ist außerhalb eines Horizonts, den wir erfassen können.“
Zur Person: Christian Kircher
Christian Kircher ist Chef der Bundestheater-Holding. Zur Holding gehören: Wiener Staatsoper, Burgtheater und Volksoper. Mit insgesamt 2.360 Mitarbeiter*innen ist es der größte Theaterkonzern weltweit.