„Azur oder die Farbe des Wassers“: Dürfen tut man viel, g’scheit ist das wenigste
Schon lange nicht mehr wurde so präzise, berührend und gnadenlos das Leben am Dorf gezeichnet. Lisa Wentz ist mit „Azur oder die Farbe des Wassers“ ein Meisterwerk gelungen. Eine Herausforderung für Schauspiel und Regie. Ein Gespräch.
Kein Gramm Fett. Lisa Wentz ist gelungen, was wenige Schriftsteller*innen schaffen: ein Text, bei dem jeder Satz sitzt, jede Szene so stark beschrieben ist, dass die Bilder im Kopf auch bei Nebensätzen entstehen. Für Schauspieler eine Herausforderung, weil die Pausen zählen. Das Weniger. Der Inhalt: Eine Gruppe von Freunden wächst am Dorf auf. Die einen fliegen davon, die anderen bleiben, wie die Bäume. Es geht um Liebe, Missbrauch, Mut und Sprachlosigkeit. Wir haben Lisa Wentz zum Interview gebeten. Sie ist 29 Jahre alt und hat vor zwei Jahren den Nestroy gewonnen.
Sind Sie ein Vogel oder ein Baum? Erklären Sie uns, warum Sie gerne manchmal das andere wären ...
Ich bin ein Vogel, ein verrückter noch dazu. Es gibt so viele Gründe, warum ich oft gern ein Baum wäre – die Geerdetheit, die Ruhe, die tiefe Verbindung mit dem Boden, und in all dem gibt ein Baum der Welt auch noch Atem. Aber das Gute sind: meine Lieblingsmenschen. Da sind viele Bäume dabei, und die haben immer einen Platz für mich am Ast frei.
Sind Sie im Moment glücklich?
Die Antidepressiva machen einen guten Job, ja.
Sie schreiben: „Es gibt oft nichts Schiacheres, als wenn die Welt um einen glücklich ist und man selber gar nicht mehr an das Glück herankommt.“ Das ist ein sehr schöner und sehr trauriger Satz. Ist das Ihre Traurigkeit?
Es ist ein Satz meiner Vergangenheit. Ich hoffe, er bleibt dort.
Ihr Text hat null Gramm Fett. Es ist einer der kompaktesten Texte, die ich je gelesen habe. Wie viel haben Sie weggeworfen?
Das freut mich sehr, dass Sie das sagen! Tatsächlich habe ich in der finalen Fassung weniger weggeworfen als dazugeschrieben, aber ich habe mich wirklich lange an verschiedensten Versionen abgearbeitet.
Sie schaffen durch Ihre Sprache eine unglaubliche Visualisierung der Orte. Wie nah sind die an Ihrem Leben?
Sehr! Das brauche ich immer, klare Orte in meiner Fantasie, wo dann die Figuren ihren Freiraum haben können.
Die erste Frage in der Psychologie ist immer: Wozu? Also: Wozu?
Ich glaube, da gibt es eine Vielzahl an Antworten. Weil der Missbrauch der Kirche immer noch nicht aufgearbeitet ist.
Weil viele der Strukturen, die in diesem Machtmissbrauch auftreten und aufgetreten sind, auf andere Themen umgelegt werden können. Weil der Aspekt der Familie und des Generationstraumas oft ausgelassen wird, um sie ungerechterweise als eine Geschichte der Vergangenheit zu deklarieren. Ich glaube aber, die einfachste Antwort ist, weil ich mich in Johannes, eine der Hauptfiguren, verliebt habe, und ich glaube, noch keine meiner Figur hat es mehr verdient, ihre Geschichte aufgeschrieben zu haben.
Was war der Auslöser für das Stück?
2010, während der großen Welle an Missbrauchsenthüllungen, war ich an einem katholischem Gymnasium, in dem Missbrauchsfälle gemeldet wurden. Das Schweigen darum, die schlechte Aufarbeitung – das macht mich heute noch so wütend, dass es mir die Tränen in die Augen treibt. Dieses Schweigen, der Spott, das ist es, was ich nicht loslassen kann. Eine riesengroße Inspiration war auch die Familiengeschichte einer sehr guten Freundin, die sie so unglaublich großzügig mit mir geteilt hat. Spätestens da war klar – da schlummert etwas.
Warum bloß wird und wurde der Missbrauch selbst von Eltern gedeckt?
Das ist schwierig generell zu sagen, jeder Fall verdient auch hier individuell unsere Aufmerksamkeit, und ich habe während meiner Recherche unterschiedliche Geschichten dazu gehört. Vielfach galt das Motto: Gegen die Kirche sagt man nichts! Die Kirche und ihre Vertreter standen vor gar nicht so vielen Jahren noch über allem, nicht nur in den Köpfen vieler Menschen, sondern eben auch ganz real – die katholische Kirche ist ein unglaubliches und fast undurchdringbares Machtkonstrukt.
Dazu kommt, dass Kindern oftmals fälschlicherweise nicht so viel Glauben geschenkt wird wie Erwachsenen. Manchmal wurde mit den Eltern auch verhandelt: Wenn ihr nichts sagt, dann klären wir das intern etc. – Die Täter wurden dann zum Beispiel einfach versetzt. Scham, Schuld, nicht ausreichende Mittel oder Status ... In einem Gespräch, das ich führte, wollte ein damaliger Schüler seiner Mutter von dem Missbrauch eines anderen Jungen erzählen. Er bekam dafür eine Ohrfeige: „Nichts gegen die Kirche!“
Zur Person: Juliette Larat über das Stück
„Ich habe so ein Stück noch nie gelesen. Das Besondere ist die Intimität, verbunden mit den großen Themen. Das Stück kommt sehr unaufgeregt daher, aber das täuscht. Diese Spannungen! An meiner Figur Anna, der Tochter von Johannes, mag ich den Trotz, diese Résistance, dieses Nicht-vergessen-Wollen. Es ist ein Stück und ein Text, der Pausen braucht. Es gibt ja sehr viele davon, und keine ähnelt der anderen. Es liegt an mir, herauszufinden, wie die Stille gespielt werden muss, die dieses Stück braucht. Darauf freue ich mich sehr.“
Ist es das Schweigen, dass das Leben am Land erst erträglich macht?
Es ist, was es zumindest für mich unerträglich macht.
Es gibt in Ihrem Stück große Sätze wie „Dürfen tut man viel, nur g’scheit ist das wenigste“. Ist der Satz von Ihnen oder Ihrer Oma, Tante, Ihrem Opa ...?
Hm, interessant, ich weiß es gar nicht! Kann auch gut sein, dass dieses Sentiment einfach weitergegeben wird – es fühlt sich sehr wahr an!
Was lieben Sie an dahingesagten Lebensweisheiten?
Dass man sie nicht so ernst nehmen muss wie echte Weisheit.
Wie schwer ist es, im Dialekt zu schreiben?
Für mich ist es ein Genuss – ich habe viel mehr Schwierigkeiten, in Hochdeutsch zu schreiben. Da steh ich dann schon mal alle drei Minuten im Zimmer meiner deutschen Mitbewohnerin und nerve sie mit: „Hast du das schon mal gehört? Sagt man das hier so?“
Johannes malt und bleibt im Dorf. Geri geht in die Stadt und lebt sein Leben. Glücklich ist keiner von ihnen, richtig?
Ich denke, sie fehlen einander einfach. Glück finden die beiden schon auch immer wieder – aber Glück ist eben ein schwer messbares Gut.
Sagen Sie mir was über einen weiteren Lieblingssatz in dem Stück: „Na, des zwischen uns war nie a Liebe in dem Sinn, aber es war was anderes, etwas, was sich genauso wichtig angefühlt hat.“
Ich denke im Moment viel darüber nach, warum romantische Liebe oft über so vielen anderen Beziehungen steht. Zumindest ich habe mir hier ein anderes Wertesystem schaffen müssen und habe erkannt, wie viele Beziehungen es in meinem Leben gibt, die so unglaublich tief gehen, dass kein Wort sie richtig abdeckt.
Nicht Freundin, nicht Partnerin, vielleicht am ehesten Lebensmensch. Nur weil bei einem Lebensmenschen vielleicht keine romantischen Gefühle vorhanden sind, gibt es da doch Gefühle, die über das Platonische hinausgehen. Dieses Phänomen versuche ich grade zu fassen.
Erzählen Sie mir etwas über Ihr Schreiben: Reden die Menschen in Ihrem Kopf miteinander? Wie sehr verabscheuen Sie auch Ihre Charaktere?
Ja! Der schönste Moment ist immer, wenn ich nicht mehr schreiben muss, sondern nur noch aufschreibe, was die Figuren sagen. Ich habe eine sehr liebevolle Beziehung zu meinen Charakteren – im ganzen Text, vielleicht überhaupt in meinem Werk bis jetzt gibt es nur eine Figur, die ich wirklich verachte; ich glaube, Sie wissen, welche.
Ein Moment, wo die Zukunft wie die Landschaft vor einem liegt. Und die Hoffnung, dass alles möglich ist.
Lisa Wentz, Dramatikerin
Wann wissen Sie beim Schreiben, dass es aus und genug ist?
Im besten Fall, wenn ich jeden einzelnen Satz rechtfertigen kann.
Wie würden Sie die Gegenwart umschreiben, wenn Sie es könnten?
Ich würde gütigere, klügere, bessere Menschen als mich an die Macht schreiben.
Wenn Sie auf die letzten Jahre zurückblicken – wie verblüfft sind Sie über Ihr Leben und Ihre Karriere?
So sehr! Die großartigen Ensembles, die talentierten Teams hinter der Bühne, die tollen Menschen im Publikum – dass ich ein Part von all dem sein darf, erfüllt mich, so kitschig es klingt, wirklich jeden Tag mit unglaublicher Dankbarkeit.
Können Sie Small Talk?
Besser als Big Talk, aber auch nicht so gut. Deswegen schreib ich auch lieber.
Kann Literatur die Welt retten?
Ich glaube, alleine kann nichts die Welt retten. Das muss / kann nur aus mehreren Richtungen kommen. Aber ich glaube, Literatur kann Zuflucht sein und Ideenaustausch und vor allem ein Raum, in dem viele wichtige Themen einen Rahmen bekommen können.
Werden Literatur und Theater durch soziale Medien bedroht?
Ich finde nicht. Theater ist und bleibt in seiner Form ein einzigartiges Medium. Der Augenblick, in dem alle in einem Saal gemeinsam atmen, um einer Geschichte, einem Abend, einem Wort, einem Spiel zuzuhören. Wo die Welt kurz groß wird für einen Moment – nur um unwiederbringlich zu werden. Das erlebe ich nur im Theater.
Zur Person: Alexander Absenger über das Stück
„Ich finde, das Spannende ist das Unausgesprochene, der Umgang mit Religion, mit Verbot, mit Schuld. Die Botschaft des Stückes wird einem nicht aufs Auge gedrückt, sie kommt scheinbar leicht daher und hat aber eine totale Tiefe und in der Sprache eine Gewalt, die eine wirkliche Herausforderung für uns Schauspieler wird. Das Wunderbare an meiner Rolle: Sie ist keine Erste-Reihe-Figur, die auf Performance ausgerichtet ist, sondern sehr weich und verletzlich. Ich versuche, da nicht draufzudrücken und gefallen zu wollen.“
Was ist das Gute an TikTok und Co?
Ich bin da nicht die beste Person für diese Frage, weil ich kein Social Media habe – was auf gar keinen Fall heißt, dass ich nicht sehr, sehr viele positive Seiten darin sehe. Gerade die schnelle Verknüpfung und Verbreitung, was soziale Themen angeht, zumindest der Ansatz einer Demokratisierung, welche Stimmen zu hören sind – obwohl es auch hier natürlich sehr viel Diskriminierung von ohnehin schon marginalisierten Gruppen gibt. Auch, dass der Zugriff auf andere Ansichten / Meinungen /Lebensrealitäten außerhalb des eigenen Kosmos in greifbarer Nähe ist, kann sehr befreiend und positiv sein.
Das Ende Ihres Stückes ist wie das Ende eines großen Hollywoodfilms. Ein Berg. Ein Sonnenuntergang. Johannes und Karla, sie geben sich die Hände. Zum Weinen schön. War es das,
was Sie wollten?
Das Ende war eigentlich erst ein anderes. Aber ja, nachdem ich wirklich harte Monate mit diesem Stück erlebt hatte und ich in vielerlei Hinsicht vielleicht zu nahe am Stoff und den Figuren dran war – aber auch hier: Ich bereue nichts! –, habe ich und auch die Geschichte das gebraucht: einen Moment des Glücks. Einen Moment, wo die Zukunft wie die Landschaft vor einem liegt. Und die Hoffnung, dass alles möglich ist.