Es war im August 1914, als einer der berühmtesten ersten Sätze der Weltliteratur in Prag zu Papier gebracht wurde: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Wenn man Kafkas „Prozess“ heute liest, ist man überzeugt, dass es keine so prophetische wie klare Beschreibung der willkürlichen Vernichtung von Leben, die neun Jahre nach seinem Tod (am 3. Juni 1924) in Deutschland 1933 ihren Anfang nahm, in der Literatur gegeben hat. Dabei, so ist sein Biograf Rüdiger Safranksi („Um sein Leben schreiben“) überzeugt, ist die unerklärliche Verurteilung deswegen entstanden, weil Kafka eine Feierlichkeit zur Verlobung mit Felice Bauer über sich ergehen lassen musste (die später wieder aufgelöst wurde).

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Viele haben Angst vor Kafka. Seine Literatur ist so gewaltig wie beklemmend, dass man ehrfürchtig Bögen um sie schlägt.

Rund um den 100. Todestag gibt es – genauso wie für die Protagonisten in Kafkas Welt – kein Entrinnen. Entsetzliche Dinge widerfahren ihnen in diesem Universum: Ein junger Mann wird von seinen Eltern nach Amerika verschifft, weil er als Teenager den Verführungskünsten eines Dienstmädchens erlegen ist. Und versinkt nach einer Odyssee des durch Gutgläubigkeit bedingten Versagens mittels eines tödlichen Fiebertraums in das Naturtheater von Oklahoma, wo alles möglich und jeder willkommen ist.

Ein anderer Kafka-Elender wacht eines Morgens plötzlich als riesiges Ungeziefer in seinem Bett auf und macht sich weniger wegen seines neuen Insektendaseins Sorgen, sondern vor allem, weil es nun einmal mit der Existenz als Handlungsreisender vorbei sei. Ein Gedankengang, der von Kafkas ungeheurer Freude am Paradoxen, Absurden zeugt. Jahrelang wurde man in der Kafka-Rezeptionsgeschichte mit dem Image eines lebensfremden Genies gefüttert, das in lustfeindlicher Realitätsabstinenz tagsüber seinen Dienst in der Versicherungsanstalt schob und abends in Szenarien der Einsamkeit, des Untergangs und des Verdammtseins abtauchte. Natürlich war Kafka auch, aber eben nur in einer Facette der lebensüberdrüssige, soziophobe Melancholiker mit den tieftraurigen Augen, dessen Sprachgewalt den Nobelpreisträger Elias Canetti sich in Demut verkrümmen ließ: „Jede Zeile von Kafka ist mir lieber als mein ganzes Werk.“

Der Vegetarier und Gymnastikbesessene war auch quietschfidel, besuchte (vor allem) auf Reisen Bordelle, wo er unter anderem „eine Dirne“ fand, „die zu alt war, um melancholisch zu sein“, und verlustierte sich mit Ladenmädchen und Kellnerinnen, wie jener Frau Hansi,„über deren Leib bereits ganze Kavallerieregimenter geritten sein müssen“, wie er seinem Seelenbruder Max Brod anvertraut hatte. Brod haben wir es übrigens auch zu verdanken, dass Kafkas literarische Verlassenschaft nicht in die Flammen geworfen wurde, wie der heute als größter literarischer Monolith geltende Schriftsteller es eigentlich wollte.

Einen Kopfsprung in Kafkas Leben ermöglicht einem die dreibändige Biografie von Reiner Stach, die einen Kafka so viel besser verstehen lässt. Als Warm-up für einen Kafka-Sommer sollte man dessen Briefe (an Felice und Milena) inhalieren und natürlich seine Tagebücher, die vor Selbstzweifeln nur so strotzen: „Gestern und heute vier Seiten geschrieben. Schwer zu überbietende Geringfügigkeiten.“ Wie konsequent sein Sinn für das Paradoxe war, bekräftigen seine letzten Worte, als er von seinem Arzt und Freund Robert Klopstock am Ende die endgültige Dosis Morphium verlangte: „Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder.“

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Zur Person: Angelika Hager

Sie leitet das Gesellschaftsressort beim Nachrichtenmagazin „profil“, ist die Frau hinter dem Kolumnen- Pseudonym Polly Adler im „Kurier“ und gestaltet das Theaterfestival „Schwimmender Salon“ im Thermalbad Vöslau (Niederösterreich).