Die Magie des Moments im Ballett „Die Jahreszeiten"
Tanz ist flüchtig, sinnlich, energetisch. Eine Kunstform, für deren Vermittlung Martin Schläpfer leidenschaftlich Kopfbilder malt. Ende April feiert der Direktor und Chefchoreograf des Wiener Staatsballetts Premiere mit Joseph Haydns „Die Jahreszeiten“ – und gibt den Körpern dabei auch Stimmen.
Das Jahr als Metapher des Lebens. So wird Joseph Haydns weltliches Oratorium, das er im greisen Alter komponierte, meistens beschrieben. Der Mensch, eingebunden in den Kreislauf der Natur,erfreut sich am mannigfaltigen Dasein und denkt über selbiges ebenso nach wie über die eigene Endlichkeit. Der Komponist war zum Entstehungszeitpunkt dieses letzten seiner vier Oratorien gesundheitlich bereits angeschlagen, was die Finalisierung hinauszögerte. Dazu kam, dass Haydn das Libretto, verfasst von Gottfried van Swieten, nicht recht überzeugte. Angeblich soll er den Text, dessen Verklärung des Landlebens und seine ausschweifenden Naturschilderungen den Einfluss des Philosophen Jean-Jacques Rousseau nicht leugnen können, als „französischen Abfall“ geschmäht haben.
Als „Die Jahreszeiten“ am 24. April 1801 in Wien endlich Premiere hatten, wurden sie trotzdem zum Erfolg, wenn dieser auch nicht an jenen von Haydns „Schöpfung“ heranreichte. Martin Schläpfer, Direktor und Chefchoreograf des Wiener Staatsballetts, beschäftigt der Stoff seit 25 Jahren. Erst jetzt fühlt er sich aber dazu berufen, dieses „gigantische Werk“ auf die Bühne zu bringen. „Die Schönheit der Musik an und für sich“ nennt er als Quelle der Faszination, „und dazu dieser Text, der so naiv, pur, direkt ist und gerade deshalb so viel auslöst.“ Dazu käme das Thema der Jahreszeiten, das eigentlich ein philosophisches sei.
„Für mich ist der Winter der Angelpunkt von allem. Er ist Ausgangspunkt für das, was danach kommt. Ohne den Winter, die Ruhe, den Tod, sind auch Freude und Schönheit nicht möglich. Jahreszeiten sind heute auch deshalb so interessant, weil sie ökologisch im Verschwinden begriffen sind oder nur noch weichgespült aneinander gekettet existieren.“
All diese Gedanken hätten ihn in der Vorbereitung begleitet, ohne zu wissen, ob und wie er diese abstrakt, keinesfalls erzieherisch in seine Choreografie einbeziehen würde. Die insgesamt 48 Stücke der „Jahreszeiten“ werden – aufgeteilt in „Der Frühling“, „Der Sommer“, „Der Herbst“ und „Der Winter“ – von einem Sopran, einem Tenor, einem Bass und einem Chor gesungen. Martin Schläpfer arbeitet gern mit Sängern und Orchester, er wolle die wunderbaren musikalischen Möglichkeiten, die er an der Wiener Staatsoper vorfände, auch nützen. Auf die Bühne wird er die singenden Protagonisten aber nicht stellen, ihn interessieren vielmehr die inneren energetischen Beziehungen zwischen Musik und Tanz.
Zur Person: Martin Häßler
Geboren im deutschen Vogtland, studierte der Bassbariton Gesang in Leipzig und London. Bisherige Stationen seiner jungen Karriere waren die Opéra de Lyon und die Oper Leipzig, wo er im April auch sein Debüt als Heerrufer im „Lohengrin“ geben wird. Seit 2020 ist Martin Häßler Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper. Hier war er u.a. als Dr. Falke in „Die Fledermaus“, als Schaunard in „La bohème“ sowie als Ned Keene in „Peter Grimes“ zu hören und zu sehen. Im Juni wird er die Rolle des Masetto in Barrie Koskys „Don Giovanni“- Inszenierung übernehmen.
Zur Person: Maria Yakoleva
Die gebürtige Russin studierte Ballett in Sankt Petersburg und ist seit 2010 Erste Solotänzerin des Wiener Staatsballetts. Zu ihrem großen Repertoire zählen Titelrollen in „Giselle“, „Manon“ oder „La Sylphide“ ebenso wie zeitgenössische Arbeiten mit Choreografen wie John Neumeier, Alexei Ratmansky, William Forsythe, Hans van Manen, Martin Schläpfer und vielen mehr.
Zur Person: Kiyoka Hashimoto
In Japan geboren, erhielt sie ihre Ausbildung im Izumi Ballet und im Jeune Ballet in Cannes. Seit 2016 ist sie Erste Solotänzerin des Wiener Staatsballetts und verkörperte sowohl die großen Rollen des klassischen Repertoires als auch viel beachtete Partien in modernen Choreografien.
Sein erstes Mal
Martin Häßler ist einer der Sänger und leiht der Figur des Simon seinen satten Bariton. Für ihn ist dieses spezielle Setting tatsächlich eine Premiere. „Ich bin noch nie gemeinsam mit einem Ballett aufgetreten, bin aber schon jetzt sehr beeindruckt, wie Tänzer ihren Körper als Ausdrucksmöglichkeit nutzen können“, erklärt er. „Simon, den ich singen werde, ist ein Bauer, Haydn war ja auch ein Landmensch, man riecht die Erde förmlich in seiner Komposition.“ Auch für ihn sind Herbst und Winter die musikalisch reizvollsten Jahreszeiten. „In beiden darf Simon bewegende Arien, die ich als Fixsterne bezeichnen würde, vortragen.“
Eine wesentliche Rolle spielt neben den Solisten auch der Chor. Martin Häßlers Karriere begann in einem solchen. „Meine Eltern sind beide Ingenieure, haben also mit professioneller Musik nichts zu tun. Ich habe irgendwann angefangen, in Chören zu singen, erst in der Schule, dann am Theater. Daneben habe ich Klavier gespielt. Irgendwann hat sich herausgestellt, dass die Stimme doch etwas Lohnendes sein könnte, und ich habe an der Hochschule in Leipzig vorgesungen.“
Er wurde angenommen, studierte später in London, blieb fast zehn Jahre in England und ist seit 2020 Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper. „Ich bin glücklich, in Wien zu leben. Das Publikum hier ist nicht nur ein dankbares, sondern auch eines, das große Repertoirekenntnis besitzt und weiß, was es hört. Selbst im letzten Corona-Jahr hat die Staatsoper vieles auf die Bühne gebracht, ich war in viele Produktionen involviert und durfte oft auftreten“, zeigt er sich zufrieden. „Die Jahreszeiten“ sind für ihn nicht nur eine herausfordernde Aufgabe, sondern, so viel lässt sich prophezeien, auch ein weiterer Karriereschritt.
Maria ist sinnlich, direkt, Kiyoka ist stiller, aber darin voller Kraft.
Martin Schläpfer, Ballettdirektor
Unterschiedlich im Timbre
Aufseiten des Tanzes finden sich zwei Frauen, die das Wiener Staatsballett als Erste Solotänzerinnen seit vielen Jahren prägen: Maria Yakovleva und Kiyoka Hashimoto.„Passionierte und hingebungsvolle Tänzerinnen“, so Martin Schläpfer. „Ich habe für beide noch gar nicht so viel kreiert und freue mich darauf, in ‚Die Jahreszeiten‘ substanziell mit ihnen arbeiten zu dürfen.“ Sie seien im Timbre ganz unterschiedlich, fährt der Choreograf fort. „Maria ist sinnlich, direkt, Kiyoka ist stiller, aber darin voller Kraft. Ich würde sagen, Maria malt eher mit Öl, und Kiyoka zeichnet mehr mit Bleistift.“ Ein schönes Bild, das im Gespräch mit den zwei Ballerinen Sinn ergibt. Kiyoka Hashimoto tanzt, seit sie sechs Jahre alt ist. In Japan, so erzählt sie, begännen manche Kinder, so auch ihr Ehemann und Kollege Masayu Kimoto, schon mit drei Jahren.
„Als ich elf war, habe ich an meinem ersten Wettbewerb teilgenommen. Ich kam von einer kleineren Ballettschule und war überwältigt vom Können der anderen.“ Also habe sie vier Jahre lang extrem hart trainiert, „denn ich wusste, dass ich professionelle Balletttänzerin werden wollte“. Der Fleiß wurde belohnt, mit fünfzehn Jahren ging sie zum Studium nach Frankreich. Maria Yakovleva hat ihre Berufsentscheidung bereits mit vier Jahren getroffen. „Meine Mutter nahm mich mit ins Mariinski-Theater, wir haben uns ‚Der Nussknacker‘ angeschaut.
Als es aus war, wollte ich das Theater nicht verlassen und habe ihr gesagt, dass ich eines Tages die Hauptrolle der Mascha – so heißt sie in Russland – tanzen werde.Tanzen ist also kein Beruf für mich, es ist mein Leben.“ Auf der Bühne zu stehen sei die Belohnung für die vielen Mühen, Entbehrungen und Verletzungen, die man im Lauf einer Karriere erleide. „Für das Publikum muss Ballett leicht aussehen“, weiß Kiyoka Hashimoto, „für einen Tänzer ist es das natürlich nicht. Aber auch wenn du Schmerzen hast, kannst du das nicht zeigen.“
Maria Yakovleva, die schon öfter verletzt war, hat deshalb gelernt, ökonomisch mit ihrem Körper umzugehen und geistig zu arbeiten: „Ich versuche, den Ablauf einer Bewegung hundertmal im Kopf durchzugehen. Selbst wenn man das nur gedanklich macht, lernt die Muskulatur.“ Interessanterweise ist das Körpergedächtnis auch so stark, dass man einmal erlernte Choreografien nie wieder vergisst. Ein kluger Kopf, so Maria Yakovleva, sei beim Tanz generell von Vorteil – neben einem ausgeprägten Willen und der Bereitschaft zu Schweiß und Tränen. „Begabung macht nicht einmal die Hälfte des Erfolgs aus. Oft ist es sogar so, dass ein begabter Tänzer, dem alles leichtfällt, faul wird und nicht besonders weit kommt.“
Kiyoka Hashimoto stimmt zu. Sie versucht, sich mit gesundem japanischem Essen, viel Schlaf und einem harmonischen Privatleben fit für die Bühne zu halten. „Wenn man körperlich in Form ist, kann man auch mit vierzig Jahren noch tanzen.“ Und falls nicht, plane sie, als Ballettlehrerin für Kinder zu arbeiten. Choreografin will sie ebenso wenig werden wie Maria Yakovleva. „Dafür braucht man ein besonderes Talent, das ich nicht habe“, stellt diese unumwunden klar.
Stattdessen könne sie sich vorstellen, am Theater zu bleiben und als Probeleiterin zu arbeiten. Maria Yakovleva ist aufmerksamen Mediennutzern auch durch Fotoshootings und ihre Social- Media-Aktivitäten bekannt. Wobei sie Letztere stark eingeschränkt hat. „Der Instagram-Hype hat der Ballettästhetik und dem Geschmack geschadet“, findet sie. „Auf Instagram ist es catchy, wenn jemand das Bein am Ohr hat oder 100 Pirouetten dreht. Das wird gelikt. Junge Tänzerinnen und Tänzer glauben, das sei Ballett. Das ist es aber nicht, das sind bestenfalls Highlights.“
Frage der Definition
Was ist Ballett dann? Martin Schläpfer seufzt. „Die Magie dieser Kunstform ist etwas sehr Leises, nicht leicht zu Beschreibendes, weil es etwas Energetisches ist, das über die Sinne läuft“, lautet sein Erklärungsmodell. Tanz sei flüchtig, nicht festzuhalten, auch nicht eingeschrieben in der abendländischen Kultur. „Ich kann es nur einkreisen. Tanz ist deshalb so heilend, weil er im Moment stattfindet, und er ist so irreführend, weil er gleich wieder weg ist. Darum ist er so nahe am Leben und am Tod.“ Darüber zu reden ist ihm wichtig. „Denn nur über das Wort, über den Versuch zu vermitteln, verankert sich diese Kunstform stärker bei den Menschen. Je mehr Wissen man hat, desto eher kann man etwas auch verstehen.“ Und schätzen.
Zur Person: Martin Schläpfer
Der gebürtige Schweizer machte erst als Tänzer eine internationale Karriere, ehe er sich der Choreografie zuwandte. Sein diesbezügliches Schaffen umfasst mehr als 70 Werke, zudem schuf er Uraufführungen für das Bayerische Staatsballett München, das Het Nationale Ballet Amsterdam und das Stuttgarter Ballett. Als Ballettdirektor leitete er das Berner Ballett, ballettmainz und das Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg, ehe er in der Spielzeit 2020/21 Ballettdirektor und Chefchoreograf des Wiener Staatsballetts wurde.
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