Es war ein Jahr nach der Charta, im Jänner 1978. Nach dem Rauswurf aus der Wohnung auf dem Hradschin-Platz platzte in unserem Sommersitz an der Sázava der Kessel. Die Havels überwinterten auf dem Land und boten uns ihre Prager Wohnung an. Die Stimmung wurde nur von den starken Freundschaftsbanden mit ähnlich „Gestrandeten und Selbsternannten“, wie uns die Tageszeitung „Rudé právo“ bezeichnete, aufrechterhalten. Eines Morgens weckten mich das Telefon und eine Stimme, die deutsch sprach.

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„Guten Tag, Herr Havel, hier ist Doktor Rupi Weys vom Wiener Burgtheater. Könnten Sie uns helfen? Wir suchen Ihren Kollegen Kohout, der zu Hause nicht rangeht. Er hat den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur bekommen.“

Er war verwirrt, statt Havel eben Pavel zu hören, doch ohne weiter nachzufragen, stellte er zum Intendanten durch.

„Achim Benning. Da den Preis nach Jahren ein Dramatiker erhalten hat, möchten wir Ihnen und Ihrer Frau einen Jahresaufenthalt anbieten.“

„Das freut mich unheimlich, aber wir haben schon seit acht Jahren keinen Reise­pass mehr …“

„Unser Kanzler Bruno Kreisky hat versprochen, sich der Sache anzunehmen.“

Dann passierte lange Zeit nichts, bis im Sommer Chefdramaturg Weys mit einem Einladungsschreiben auftauchte. Ich vereinbarte mit Václav Havel, dass er eine „Versammlung verbotener Kollegen“ nach Hrádeček einberufen solle. Wir waren vierzehn, und alle warnten uns, dass man noch niemanden aus dem Ausland zurückgelassen habe. Ich wandte ein, dass alle, kaum dass sie die Grenze passiert hatten, begonnen hätten, in den Medien auf das Regime einzudreschen, womit sie direkt den Rauswurf herausgefordert hätten. In Prag veranstaltete ich selbst für vier verbliebene Auslands­korrespondenten eine Pressekonferenz mit der Grundaussage: Ich fahre als Unterzeichner der Charta und werde auch so zurückkommen. Das Jahr im Ausland wolle ich ohne politische Aktivitäten dem Schicksal meiner Bücher und Stücke widmen, damit dann in ähnlicher Weise weitere Künstler fahren dürften, die nach 1968 mit einen Verbot belegt worden waren.

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Das Dokument von Helsinki hatte erneut ganze Arbeit geleistet. Wir brachen am 28. Oktober 1978, am sechzigsten Geburtstag der Tschechoslowakei, auf. Am nächsten Tag betrat ich das Theater, das als Flaggschiff der deutschsprachigen Bühnen gilt. Der Koloss am Ring, der Prachtstraße der Wiener Palais, heißt „die Burg“, aber das Arbeitszimmer des Intendanten war bescheiden, nach seinem Amtsantritt hatte er es aus dem Festflügel näher an die Bühne verlegt. Achim Benning war ein robuster Mann, sieben Jahre jünger als ich. Doch ab dem ersten Händedruck stimmte die Chemie, wir enttäuschten einander nie, uns verbanden eine angeborene Offenheit und der Sinn für Humor.

„Sie müssen unsere Visitenkarte haben“, sagte er. „Welchen Titel wünschen Sie? Regisseur oder Dramaturg?“

„Ich führe nur gelegentlich Regie, damit ich weiß, wie ich Rollen für Schauspieler schreiben muss. Und Autoren Ratschläge erteilen kann ich nur so, indem ich ihnen sage, wie ich das schreiben würde.“

„Dann werden Sie Konsulent sein“, entschied er.

„Was ist das?“

„Nichts, aber es klingt toll. Was, Rupi? Lass das so drucken!“

Und so wurde ich (nachdem man mich zusammen mit Jelena am 4. Oktober 1979 bei der Rückkehr in die Heimat, die die tschechische Staatssicherheit so überraschte, dass sie uns in spektakulärer Weise zurück nach Österreich hinübertragen ließ) fast für zehn Jahre Konsulent des Burgtheaters, führte dort Regie, schrieb Stücke, organisierte Begegnungen und reiste dabei zu meinen Theater- und Literatur­premieren durch die Welt.

Lieber rot als tot

„Lieber rot als tot!“ war die neue Losung der europäischen intellektuellen Linken, die zehn Jahre zuvor den politischen Prager Frühling gefeiert und die Sowjetmacht wegen dessen brutaler Niederschlagung verurteilt hatte. In der Zwischenzeit waren die neuen nichtswissenden Allwissenden zu der Ansicht gelangt, dass die Dissidenten aus dem Osten Europas mit ihrer ständigen Kritik an dem Regime den Glauben an den Sozialismus selbst bedrohten und dadurch dem Imperialismus dienten. Die Künstler im Westen unterlagen zuhauf den Einladungen sowjetischer Gastgeber, die ihnen zu Kaviar und Wodka auch die einzig richtigen Ansichten servierten. Der führende österreichische Dramatiker führte nach seiner Rückkehr aus Moskau als wichtigste Erkenntnis an: In der UdSSR gibt es keine verbotenen Autoren, für die sich Graphomanen ausgeben, die niemand druckt und spielt, weil sie niemanden interessieren.

Dieser Trend breitete sich über die Dramaturgien, die Lektorate und Redaktionen aus, in denen an vielen Stellen Leute das Sagen hatten, die nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ als bezahlte Agenten der Staatssicherheit der DDR enttarnt wurden – siehe Bernt Engelmann, Vorsitzender des westdeutschen Schriftstellerverbands. Die tausend­köpfi­gen „Friedensmärsche“ protestierten gegen die amerikanischen Pershing-Raketen, die als Antwort auf die angeblich Frieden schaffenden sowjetischen SS-Scud-Raketen, die seit kurzer Zeit auch in der Tschechoslowakei stationiert worden waren, importiert wurden. Die Dissidenten verschwanden aus „fortschrittlichen“ Zeitschriften und Theatern. Dank Benning und seinem Team hielten die Mauern der Burg diesem Verstandesverlust stand.

Bennings Sternstunde war gekommen, als das Burgtheater seine historisch erste Tournee nach Moskau antreten sollte.

Pavel Kohout

Werfen Sie diesen Böhmen raus!

Im Frühjahr 1979, als ich mich noch auf jenem einjährigen „Urlaub aus der Besserungsanstalt“ befand, wurde über Österreich für ein Jahr auch der Schauspieler Pavel Landovský in die weite Welt hinausgelassen. Es war klar, warum. Der geniale Einzelgänger konnte nur Tschechisch, und es war klar, dass er bald „auspacken“ würde; es erwartete ihn ein unwürdiges Dasein in Flüchtlingslagern. Ich sollte gerade beginnen, bei Gogols „Revisor“ Regie zu führen, und ich erinnerte mich an die winzige Rolle des deutschen Arztes, den der Autor nur im ersten Akt verwendet hatte. Achim war selbst ein hervorragender Schauspieler, und Pavel gefiel ihm sofort. Er hatte nur Angst, wie dieser – zuvor schon in Prag gefeierter „Revisor“-Hauptmann – im selben Stück den Cameo-Auftritt verkraften würde. Das ließ sich vermeiden.

Ich zog die Rolle des Arztes durch die gesamte Komödie und ließ ihn, verloren unter Russen, manchmal eine Weisheit auf Latein sprechen wie „Mens sana in corpore sano“ (In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist) oder „De mortuis nil nisi bene“ (Über Tote soll nur Gutes gesagt werden). Es funktionierte, aber es tauchte ein anderes Problem auf. Das aufbrausende Original, das gewohnt war, auf seine eigene Art und Weise zu zaubern, war unter etwa zwanzig Partnern auf kurze tschechische Erklärungen angewiesen und begann, sich die Langeweile mit Schlaf zu verkürzen. Gegen den nicht anpassungsfähigen „Böhmen“ erhoben sich radikal vier junge Leute, angeführt von einem Nachkommen des Schauspielclans Stroux.

Sie beschlossen, Norbert Kappen, Star des Burgtheaters und aktuell „Re­vi­sor“-Hauptmann, einzubinden, der vor kurzem die Rolle des Goethe’schen Mephisto an den tschechischen Regisseur Otomar Krejča zurückgegeben hatte (nach einer Woche Krejča-Monologen stand Kappen bei einer Leseprobe vom Tisch auf und ging mit den Worten, er habe die Matura schon längst hinter sich).

Es zeigte sich, dass Benning damit gerechnet hatte und wusste, dass Kappen in Landovský die Bühnenraub­katze gespürt haben musste, die er selbst war. Jetzt bat er ihn nur, dies zu zeigen. Kappen, der gefürchtete Mime, der nie in die Theaterkantine ging, schlug dort plötzlich auf, setzte sich zu dem Vereinsamten, bestellte zwei Bier und hatte wenig später den Arm um seine Schultern gelegt. Die Revolte war auf einen Schlag vorbei. Kappen akzeptierte das Konzept der rasanten Komitragödie und begrüßte es, am Schluss – wegen jeden Bottichs mit heißem Wasser seine Ratsherren schikanierend – irrtümlich eine Sahnetorte ins Gesicht geworfen zu bekommen, somit verwandelte er sich in einen August.

Der stürmische Beifall galt gleich in der ersten Minute der Premiere einem weiteren Tschechen, dem Bühnenbildner Pavel Bílek: Statt eines Vorhangs legte er zwei sechs Meter große flache Figuren von Zarenpolizisten auf die Bühne, die aufstehen und salutieren konnten. Landovský erntete Beifallrufe auf offener Bühne für seine stumme Etüde, in der er dem betrunkenen Chlestakow beibrachte, sich gegen Brechreiz abzusichern: indem er sich ein Taschentuch in den Mund stopfte und die Lippen zusammenpresste. Noch auf der nächtlichen Feier bot ihm Benning ein festes Engagement an, das seine Nachfolger in ein lebenslanges um­wandelten.

Bennings Sternstunde war gekommen, als das Burgtheater seine historisch erste Tournee nach Moskau antreten sollte. Die Rollwagen mit der Dekoration für Gorkis „Sommergäste“ waren – unter Achims Regie – bereits im Theater­heiligtum MChAT (Anm.: russ. Abkürzung für das Tschechow-Kunsttheater Moskau) angekommen, als Landovský die Nachricht erhielt, dass man ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt habe; zeitgleich bekam die Direktion der Burg die Mitteilung, sein Visum für die UdSSR sei ungültig gemacht worden. Eine kleine Rolle lässt sich schnell umbesetzen, womit die Drahtzieher gerechnet hatten. Sie wurden von Schande eingeholt. Auf einer Pressekonferenz teilte der Intendant mit der Zustimmung von Kanzler Fred Sinowatz mit, die österreichische Staatsbühne lasse sich nicht erpressen und werde nicht ohne ihr Mitglied abreisen.

Es folgte ein Skandal, bei dem die Österreicher, die in dieser Hinsicht den Tschechen gleichen, Benning massenweise priesen und tadelten, doch er beharrte auf seinem Standpunkt. Und er wurde damals von den bekanntesten europäischen ­Regisseuren unterstützt, die Landovský wichtige kleine Rollen gaben, die er in deutscher Sprache bewältigen konnte, denn sie wussten, dass er sich immer etwas ausdenken würde, womit er eine Inszenierung zum Leuchten bringen konnte. Es wäre schade, zu verschweigen, dass die Burg ihm einen Deutsch-Intensivkurs in der exklusiven Berlitz-Sprachschule finanzierte – somit sprach sein Lehrer ein Jahr später ein äußerst blumiges Tschechisch.

Zur Person: Pavel Kohout

Ist ein tschechisch-österreichischer Autor, Theatermann, Bürgerrechts­aktivist und Politiker. Er war Wortführer des Prager Frühlings und Unter­zeichner der Charta 77. Er lebt in Prag und Wien.

Das Theater ist eine Schule der Verstellung

So kann man eine Institution bezeichnen, deren Mitglieder jeden Abend zu jemand anderem werden, als sie es in Zivil sind. Es ist keine Ausnahme, dass einem dies in Fleisch und Blut übergeht. Benning war genauso wahrhaftig als Schauspieler wie als Chef und Freund. Er weckte Vertrauen bei „Anfängern“ wie Thomas Stroux, Pavels späterem Freund, und mit allen Wassern gewaschenen Künstlern; er hat sich nie verziehen, dass er die Härte von Norbert Kappen überschätzt und nicht gespürt hatte, dass er sich auf dem Gipfel seiner Erfolge im Zuge einer Depression erschießen würde …

Im Jahr 1982 schrieb ich ein Stück, das das Schicksal von Vlasta Chramostová kopierte, einer herausragenden Schauspielerin, die absolut verboten war, mit der Herstellung von Tischlampen ihren Lebensunterhalt verdiente und sich danach sehnte, zumindest für ihre Freunde in Wohnungen Theater spielen zu können. Ich rief Benning in seiner Sommerhütte in Großgmain an der Grenze zu Bayern an. Er sagte nur: „Übersetzt du mir das vom Blatt?“ Ich war es gewohnt, ihm so Havels noch nicht übersetzte Stücke vorzulesen. In dem gemütlichen Gärtchen unter den Gipfeln der frostigen Alpen saß schon Leopold Lindtberg, der legendäre Regisseur der ersten Stücke von Bertolt Brecht im Züricher Exil. Ich las den Text „Marie kämpft mit den Engeln“. Dieser hatte schon in der neuen Saison Premiere, und dadurch wurde das Stück schon bald auf mehreren europäischen Bühnen gespielt. In Tschechien bis heute auf noch keiner, und das ist dem Umstand geschuldet, wie sich die tschechischen Theatermacher, die in Massen die „Anticharta“ unterzeichnet hatten, gegenüber ihrer verfolgten Kollegin verhalten haben.

Das Ensemble der Burg glaubte, dass Benning auch im nächsten Zeitraum Intendant bleiben würde. Vertrieben wurde er vom Wiener Bürgermeister Zilk, der später überführt wurde, auf der Geschenkeliste der tschechoslowakischen Staatssicherheit gestanden zu haben; er drückte den Erzfeind der Dissidenten, Claus Peymann, für dieses Amt durch. Havel schrieb damals: „Herr Benning verlässt das Burgtheater. Andere, Berufenere, werden die Ära seines Wirkens dort bewerten. Ich wäre nur froh, wenn diese bei ihrer Bewertung wüssten, dass in Prag ein Dramenautor lebt, der viele Gründe hat, ihm dankbar zu sein.“

Ich verließ die Burg vor dem neunten Jahr meiner Mitgliedschaft, als mich die damals übliche endgültige Mitgliedschaft erwartete. Der Titel eines Künstler­beam­ten hätte nicht zu mir gepasst, und zu Peymann passte ich schon gar nicht. Im Ozean der westeuropäischen Theater gab es nur drei weiße Wale: die beiden Franzosen Ariane Mnouchkine und Patrice Chéreau und Achim Benning. Als die Berliner Mauer fiel und mit ihr die Lügen all derer, die mit ihren Erbauern kollaboriert hatten, wollten sich viele im Glanz des neuen Helden Václav Havel sonnen; von den Künstlern gerade diejenigen, die ihn jahrelang verleugnet hatten. Benning ist bis zu seinem Tod er selbst geblieben.

Achim, Shakespeares Demetrius aus dem „Sommernachtstraum“ würde dich sicher mit seinem „Gut gebrüllt, Löwe!“ wertschätzen.

Mein Chef und Freund, adieu.