Seit der Ära Roščić hat die Wiener Staatsoper wieder einen Chefdramaturgen: Sergio Morabito. Aber die Welt kann ganz schön unfair sein. Da bist du inhaltlich für eines der wichtigsten Opernhäuser der Welt verantwortlich, trotzdem weiß niemand so genau, was du machst. Gut, deine Jobbezeichnung klingt seriös und beeindruckend. Aber wenn du Menschen außerhalb der Theater- oder Opernwelt triffst, siehst du die Fragezeichen in den Augen. Ah, Sie sind Dramaturg. Pause. Toll. Fragezeichen. Themenwechsel.

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Die Wahrheit ist, würde es den Stachanow-­Orden für besondere Helden der Arbeit bei uns geben, die Dramaturgie der Wiener Staatsoper stünde in der ersten Reihe bei der Verleihung. So umfangreich, zeitintensiv und vor allem auch emotional fordernd ist deren Arbeit – aber dazu später im Detail.

Italienische Wurzeln

Sergio Morabito ist Deutscher mit italienischen Wurzeln, die großen italienischen Opern stehen bei seiner Familie im Plattenschrank. Er studierte Theaterwissenschaften in einer Zeit, als Heiner Müller und Bob Wilson die „Institutsheiligen“ waren, wie Morabito selber sagt. In der Frankfurter Oper sorgt damals Neuenfels mit seiner „Aida“-Interpretation für Schreiduelle und Beinahe-Abbrüche. 

So etwas prägt. 

Sergio Morabito mit dem Saisonbuch der Wiener Staatsoper. Ein Großteil der Texte stammt von Morabito und seinem Team.

Foto: Lukas Gansterer

Ausnahmestellung als Ziel des Hauses

Sergio Morabitos Büro in der Wiener Staatsoper liegt im zweiten Stock nur wenige Zimmer vom Büro des Direktors entfernt. Die räumliche Nähe zeigt die Relevanz seiner Arbeit für den Betrieb. Im Büro steht ein großes oranges Sofa. Er trägt eine schwarze Brille und ein weiß gepunktetes Hemd. 

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„Sergio Morabito hat den von der Kritik vielfach preisgekrönten künstlerischen Erfolg der Oper Stuttgart entscheidend mitgestaltet“, sagte Bogdan Roščić bei der Bestellung Morabitos. Und: „Eine Ausnahmestellung – auch durch herausragende szenische Leistungen – ist selbstverständliches Ziel des Hauses am Ring.“

Regie bei den Salzburger Festspielen

Morabito war seit 2011/12 Chefdrama­turg an der Stuttgarter Staatsoper, und er ließ es als Regisseur bei den Salzburger Festspielen funkeln. Dort legte er etwa gemeinsam mit Andrea Breth 2007 einen fulminanten „Eugen Onegin“ vor. Eine enge künstlerische Partnerschaft verbindet Morabito überdies mit Regisseur Jossi Wieler, mit dem er schon vielfach Inszenierungen gestaltete, ebenfalls bei den Festspielen 2001 „Ariadne auf Naxos“ und 2008 „Rusalka“. Bei den Wiener Festwochen traten die beiden 2004 mit „Pelléas et Mélisande“ an. 

Vor einem Jahr gelang dem Duo ein Aufschlag in Wien mit „Das verratene Meer“ von Hans Werner Henze. Mit im Team: Anna Viebrock und Star-Dirigentin Simone Young, die im Übrigen ab 2022 als Chef­dirigentin des Sydney Symphony Orchestra agieren wird.

Übersetzer und Erklärer

Im Frühling dann der nächste große Streich: Morabito, der perfekt Russisch spricht, half bei der grandiosen Geburt von Kirill Serebrennikovs „Parsifal“. 

Weil der Regisseur Russland nicht verlassen durfte und nur via Video zugeschaltet war – fungierte Morabito unter anderem als künstlerischer Erklärer. Vor allem Jonas Kaufmann, der sich anfangs durchaus emotional mit den Regie-Ideen Serebrennikovs auseinandersetzte, wollte überzeugt werden. Das gelang. Kaufmann brillierte.

Das Entstehen einer Oper ist stets ein kreativer, emotionaler Prozess."

Sergio Morabito

BÜHNE: „Herr, lass Hirn regnen“, soll ­Jonas Kaufmann während der Proben zu „Parsifal“ gerufen haben. Galt das Ihnen?

Sergio Morabito: Vermutlich. (Lacht.) Das Entstehen einer Oper ist stets ein kreativer, emotionaler Prozess. Mit Kaufmann zu arbeiten ist immer sehr gut, er ist nicht nachtragend – das ist eine seiner ganz, ganz großen Qualitäten. 

Das Wunderbare in der Zusammenarbeit mit Serebrennikov ist, dass es keine ungelösten Probleme gibt. Er hat alles gelesen, alles verstanden, alles recherchiert, das verwandelt er dann in Kunst und bringt es auf die Bühne und damit auf eine neue Ebene. Da war so viel positive Energie. Das ist ja unter anderem auch die Aufgabe eines Dramaturgen. Man muss vermitteln, Dinge erklären, um im Team eine Akzeptanz herzustellen. Bei „Parsifal“ ist das ganz extrem, denn jeder Wagner-Fan glaubt zu wissen, was Parsifal ist und wie das geht. Wenn man aber sagt: Nein, dieser „Parsifal“ wird nicht mehr das sein, was er war, dann führt das erst einmal zu Skepsis. 

Parsifal Staatsoper

Parsifal von Richard Wagner

Richard Wagners „Parsifal“ wird wegen seines religiösen Charakters gerne zur Osterzeit aufgeführt. Die BÜHNE hat die Handlung des letzten musikdramatischen Werks des Komponisten zusammengefasst. Weiterlesen...

Der Betrieb muss sich vor Regisseuren schützen, deren Visio­nen größer sind als ihr Können."

Sergio Morabito

Denn der Theaterbetrieb ist darauf ausgerichtet, dass Abläufe funktionieren. Und aus diesem Zugang heraus muss sich der Betrieb schützen vor Regisseuren, deren Visio­nen größer sind als ihr Können. Das wiederum bedeutet, dass es eine Skepsis gegen Neues gibt. Es war Überzeugungsarbeit, zu zeigen, dass im Falle von Kyrill Serebrennikov ein Regisseur kommt, der nicht nur das übliche Videozeugs macht, sondern ein großer Kino­regisseur ist mit einer klaren Vision der Umsetzung. Oper ist auch ein angstbesetzter Betrieb – aber wir waren angstfrei, denn wir wussten, dass wir es schaffen, alle mit an Bord zu holen.

Interesse an der Narration

Sie befinden sich damit in einer ­permanenten Sandwichposition. Wie schwierig ist das, wenn – wie bei „Parsifal“ – die ganze Geschichte neu erzählt wird?

Sergio Morabito: Du musst Interesse an der Narration haben. Du musst Geschichten erzählen wollen und dich in deine Akteure verlieben. Du muss Situationen erfinden und dich mit Psychologie auseinandersetzen. Gerade in der Oper hast du es mit Geschichten zu tun, die du neu erzählen musst.

Kyrill ist ein großer Erzähler. Er bildet nicht ab, was da scheinbar steht, sondern bei ihm ist es eine künstlerische Verwandlung, die jedoch auf das Geschriebene seismografisch reagiert. Kyrill hat ein Storyboard, wo er genau von Takt zu Takt alles skizziert hat. Er hat sich dabei gefilmt, wie er die verschiedenen Rollen spielt.

Die ganze Produktion war eine Herausforderung. Viele Mitarbeiter haben gespürt, dass da etwas Großes entsteht, aber manche waren verunsichert. Da ist es dann mein Job, Überzeugungsarbeit zu leisten. Für mich ist Theater ein Medium der Verwandlung, und mir haben viele Menschen nach der Premiere gesagt: „Für uns ist der ‚Parsifal‘ nicht mehr das, was er früher war.“ Das ist doch das Tollste, was man über eine Inszenierung sagen kann, dass eine Aufführung international zu einem Wendepunkt wird. Die Wiener Staatsoper hat sich mit dieser Produktion ins Zentrum der Musik­theaterwelt gespielt. Dafür gemeinsam gekämpft zu haben macht mich glücklich.

Headhunter für spannende Regieteams

Ein anderer Teil Ihres Jobs ist es, zu suchen. Was eigentlich?

Sergio Morabito: (Lacht.) Was mir besonders Spaß macht, ist es, Headhunter für spannende Regieteams zu sein. Ich hatte in der Vorbereitung eine Carte Blanche und durfte einfach Regie­spuren folgen. Wenn ich an dem Punkt bin, dass ich etwas gefunden habe, wofür es sich zu kämpfen lohnt, gehe ich zu Bogdan und versuche, ihn bestmöglich mit Materialien zu versorgen. Er schafft es dann – trotz seines explodierenden Terminkalenders –, nach Frankreich oder irgendwohin in die Pampa zu fahren, um sich dort eine Aufführung anzusehen, damit er für den Regisseur ein Gefühl bekommt.

Ich bin so stolz und froh, dass unser Direktor bei vielen unserer Entdeckungen mit ins Boot gestiegen ist und dass wir uns gemeinsam für Theaterleute begeistert haben, die vielleicht noch nicht allzu bekannt sind. Aber das wichtigste Kriterium ist immer, wie ich schon vorher gesagt habe, dass wir Regisseure finden, die Lust an Figuren, Situationen und am Erzählen haben.

Takt für Takt, Note für Note

Sie haben gemeinsam mit Jossi ­Wieler selbst eine spektakuläre ­Premiere mit dem „Verratenen Meer“ abgeliefert. Wie lange arbeitet man eigentlich an so einem Projekt? Vor allem wenn es im Fall der Henze-Oper keine echte ­Referenzaufführung gibt? 

Sergio Morabito: Na ja, das waren zwei Jahre. Da ist man natürlich nicht ununterbrochen dran. Aber zuerst bereitet man sich selber vor, dann wird gemeinsam gelesen, geforscht. Ich arbeite mit Jossi Wieler und Anna Viebrock schon sehr lange zusammen, wir sind ein eingespieltes Team.

Aber trotzdem: Am Ende geht man tatsächlich die ganze Oper Takt für Takt, Note für Note auch gemeinsam mit Simone Young durch. Das ist Arbeit – aber eine, die Spaß macht; meine Entscheidung für Wien hing auch damit zusammen, dass mir Bogdan Roščić zugesagt hat, dass ich auch gemeinsam mit Jossi als Regisseur arbeiten darf.

Sie haben in Ihrem ersten Jahr zehn Premieren rausgehauen. Wäre das ohne Corona auch so glatt gegangen?

Sergio Morabito: Natürlich. Der Vorteil – wenn man es so nennen darf – war, dass wir nicht jeden Abend eine Vorstellung hatten, sondern viel, viel mehr Probenzeit. Aber ich gestehe: Als mir Bogdan bei unserem ersten Gespräch erzählt hat, was er alles vorhat, dachte ich nur: Respekt, hoffentlich fliegen wir nicht aus der Bobbahn. (Lacht.)

Sie kennen alle Seiten der Regie.
Was macht Ihrer Meinung nach einen guten Regisseur aus?

Sergio Morabito: Wichtig ist, dass sich ein Regisseur nicht wie ein Oberlehrer verhalten sollte, der immer Recht hat. Das kritische, skeptische und auch provokante Hinterfragen schwächt dich nicht, sondern diese Auseinandersetzung stärkt letztendlich deine Vision – die wiederum kann man nur verteidigen, wenn man sich eine erarbeitet hat. (Grinst.) 

Die Wiener Staatsoper