Wie choreografiert Martin Schläpfer für seine neue Kompanie? Wozu haben die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts ihren neuen Chef in „4“ zu Gustav Mahlers vierter Symphonie inspiriert? Die Neugierde unter heimischen Tanzfreunden ist groß. Kurz vor der Premiere am 4. Dezember, die coronabedingt nicht auf der Bühne der Wiener Staatsoper, sondern live-zeitversetzt via ARTE-Concert-Stream und am 8. Dezember auf ORF 2 zu sehen sein wird, gab der neue Direktor des Staatsballetts in einer Interviewrunde Einblicke in sein erstes Werk für Wien.

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Mehr als 100 Tänzer bei Mahler, live

Es sind zahlreiche Bilder, die er in seinen Beschreibungen evoziert: Zwei Frauen, die sich engelsgleich von den übrigen Menschen abheben und manchmal doch mitten unter ihnen sind. Männer, die tragend ein Christophorus-Gleichnis erzeugen. Tänzerinnen und Tänzer, die an Alma und Gustav Mahler gemahnen, die nicht ohneeinander können und doch mit Schwierigkeiten und Unterschieden hadern. Wer Schläpfer über „4“ sprechen hört, merkt oft, dass es ihm wichtig war, zwar keine Handlung, aber doch Hintergedanken zu schaffen – und das Werk gemeinsam mit den mehr als 100 Tänzerinnen und Tänzern zu erarbeiten.

Wie kann ich mit meinem Ensemble arbeiten, sodass sich jeder erwünscht und inspiriert fühlt?

Martin Schläpfer

„Ich fragte mich: Wie kann ich mit meinem Ensemble arbeiten, sodass sich jeder erwünscht und inspiriert fühlt?“, so Schläpfer. „Mir war wichtig, für die Tänzer zu choreografieren. Andererseits ist es ein Schläpfer – zwischen diesen beiden Polen haben wir gearbeitet.“ Das „Schöne und Verblüffende dabei war, dass ein Kennenlernen fast gar nicht notwendig war, vielleicht auch wegen der Magie dieser Kunst, in der man sehr schnell in einen Austausch kommt“, erzählt der Ballettchef.

Es waren nicht nur einzelne, sondern viele Tänzerinnen und Tänzer der Kompanie, die ihn zu Teilen dieser Choreografie inspirierten. Für ihn seien „auch jene, die hinten tanzen, sehr wichtig, es geht um eine gemeinsame Energie. Trotzdem ist es keinesfalls ein Kollektivstück, wo jeder gleichwertig ist“, so Schläpfer.

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Kein Mahler-Zyklus geplant

Durch die Auswahl einer Komposition von Mahler, den er privat „sehr selten“ höre, schließe er zwar einerseits an eines seiner früheren Stücke, „7“, an, andererseits gehe es ihm um die Verbindung von Mahler zu Wien. Einen Mahler-Zyklus werde er dennoch nicht schaffen, selbst wenn ihn an der vierten Symphonie „der Mut emotional und transzendent zu sein, diese Euphorie, dann wieder das kindlich Naive, Poetische“ inspiriere.

Die Musik sei „körperlich zu spüren. Ich empfinde sie als zutiefst human, sie birgt, was es bedeutet Mensch zu sein.“ Gleichzeitig sehe er in ihr das „typisch Wienerische – immer kurz vor dem Absturz, mal orgiastisch, dann wieder ganz fein. Das spricht mich sehr an.“

Tänze wie Inselgruppen unter Wasser verbunden

Mahler habe für ihn „vordergründig eine große Leichtigkeit, gleichzeitig aber sehr schnelle Wechsel und eine Hinterhältigkeit, die nicht ganz das meint, was man aufs Erste zu hören glaubt.“ Gerade die Vielseitigkeit der Symphonie habe ihn „dazu animiert, dort anzuknüpfen, wo ich gerne bin – und in kurzen Schüben zu arbeiten und diese dann einander anzugliedern.“

Diese Fragmente stünden aber nicht jedes für sich, sondern seien vergleichbar mit einer Inselgruppe, die unter Wasser verbunden ist. „Auch wenn der Beginn sehr tänzerisch, drängend und akademisch wird, vermengt sich das Schrittmaterial schnell mit zeitgenössischem Vokabular. Bald bricht das Drama ein, später die Harmonie des Zusammenseins, die Sehnsucht, dann spielt wieder der Fiedler zum Tod auf.“

Zwischendurch setze er auch bewusst immer wieder, was er einen „Scheibenwischer zum Neutralisieren“ nennt, der dann eine gänzlich neue Szene ermögliche. Er freue sich, so Schläpfer, diesmal auch mit einer Gesangssolistin, Slávka Zámecníková, und mit dem ihm vertrauten Axel Kober am Pult des Wiener Staatsopernorchesters zu arbeiten.

Die Uraufführung von „Mahler, live" wird live übertragen. Der Zuschauerraum bleibt leer.

Foto: Wiener Staatsballett / Ashley Taylor

Flirten im Foyer

Die neue Choreografie „4“, die nun zur Uraufführung kommt, kombiniert Martin Schläpfer mit der Choreografie „Live“ von Hans van Manen. Eine Ballerina flirtet dabei mit der Kamera, bevor sie im Foyer ihren Partner zum Pas de Deux trifft. Die beiden Arbeiten seien „zusammen sehr schlüssig und stimmig“, beschreibt er. „Van Manens Stück ist sehr reduziert.“

Danach ein Werk für das ganze Ensemble – eben mehr als 100 Tänzern - zu setzen, passe gut. Hans van Manen habe seine Choreografie für die Wiener Staatsoper adaptiert: „Er hat auch das Haus mitgedacht, das gibt dem Stück einen ganz neuen Flair“, so Schläpfer. „Hans van Manen, mit dem ich seit Jahren künstlerisch kollaboriere und befreundet bin, war völlig offen Lösungen zu finden.“

Im TV gehen Dinge verloren, aber man kommt auch in eine ganz besondere Nähe und kann die Energie und die Atmung der Tänzer erfahren.

Martin Schläpfer

Dass die Uraufführung seines Werks „4“ und die Premiere von „Live“ nun via TV stattfinde, sei „natürlich für mich ein Risiko – neben den Umständen, unter denen dieses Werk entstanden ist. Ich sehe es so: Im TV gehen Dinge verloren, aber man kommt auch in eine ganz besondere Nähe und kann die Energie und die Atmung der Tänzer erfahren.“ Er denke derzeit aber trotz allem „gar nicht an das Fernsehen, sondern nur an mein Stück.“

Termine für Mahler, live

Die Premiere von „Mahler, live“ kann wegen der vorübergehenden Schließung aller österreichischen Bühnen im Rahmen der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie nicht vor Publikum stattfinden, wird aber am Freitag, 4. Dezember, ab 20.30 Uhr im Rahmen der ARTE „Opera Season“ auf ARTE concert live-zeitversetzt gestreamt. Am Dienstag, 8. Dezember folgt um 9.05 Uhr eine erneute Ausstrahlung von Martin Schläpfers 4 in der ORF2-Sendung „Matinee„.

Weitere Details unter wiener-staatsoper.at

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