Prison sucks. Gefängnis ist scheiße. Jemand hat es mit Kreide auf eine Wand im Orgelsaal der Wiener Staatsoper geschrieben. Kirill Serebrennikov grinst und nickt. Wer, wenn nicht er, weiß das ziemlich genau. Hier im sechsten Stock warten die Debütantinnen beim Wiener Opernball auf ihren Auftritt. Hier stehen Kulissen herum, und hier gibt es auch zwei Ausgänge auf die Balustrade des Dachs – einer geht in Richtung Ring, der andere in Richtung  Hotel Bristol.

Anzeige
Anzeige

Es ist ein ziemlich großes Wunder, dass wir hier mit Serebrennikov stehen. 2017 wurde der russische Theatermacher und Filmregisseur in seiner Heimat verhaftet. Weil er Kunst macht. Nicht politischen Aktivismus. Später wurde er dann zu Hausarrest verurteilt. Von dort aus stellte er 2021 mit Elīna Garanča und Jonas Kaufmann den „Parsifal“ neu auf. Ein viel umjubeltes Meisterwerk. Anfang 2022 durfte er aus Russland ausreisen, wäre fast neuer Festwochen-Chef geworden und wird jetzt Verdis „Don Carlo“ inszenieren – und zwar die vier Akte umfassende Mailänder Version.

Damit verfügt das Repertoire der Wiener Staatsoper dann über einen unglaublichen Luxus, nämlich über zwei Varianten der Oper. Außerdem gibt es noch die „Don Carlos“-Variante mit fünf Akten von Peter Konwitschny von 2004, bei deren Premiere die Gegner des Regietheaters dermaßen durchdrehten, dass die Aufführung vor dem Abbruch stand. Einer der Gründe: die pantomimische Umsetzung der Ballett-Szene, die Verdi (unwillig und daher musikalisch auch nicht besonders aufregend) für die französische Variante komponiert hatte. Ballett ist in der Mailänder Version raus.

Übrigens: Sieben Varianten gibt es von der Oper. Verdi hat sie immer wieder umgearbeitet. Und die Musik? Für Verdis Verhältnisse ist sie ungewöhnlich melancholisch und düster. Ausgenommen einige wenige Szenen wie das Sich-ineinander-Verlieben von Don Carlo und Elisabetta im ersten Akt. Daraus entsteht auch das Drama. Denn – so der Inhalt in einem Satz: Der spanische Thronfolger Don Carlo verliert seine Braut Elisabetta aus politischen Gründen an seinen Vater Filippo II., den spanischen König, und über all dem schwebt drohend die Inquisition. Sie sehen – alles angerichtet fürs Heute: Es geht um eine Diktatur, die einer chauvinistischen, fundamentalistischen Religion ausgeliefert ist.

Kiril Serebrennikov
Kirill Serebrennikov, geboren in Rostow am Don, arbeitete u. a. am Bolschoi- und am Mariinski-Theater, an der Komischen Oper Berlin, für die Wiener Festwochen, er drehte preisgekrönte Filme (Cannes, Locarno) und wurde 2017 von Putin zuerst verhaftet und dann zu Hausarrest ­verurteilt – von dort aus inszenierte er u. a. via Video 2021 den „Parsifal“ in Wien. Im Jänner 2022 konnte er ausreisen und lebt seitdem in Berlin im Exil. Das Foto entstand am Dach der Wiener Staatsoper.

Foto: Victoria Nazarova

Gefängnisse aller Art

Kirill Serebrennikov lässt die Oper in einem Institut für Kostümbild spielen. Monatelang hat er historische Webtechniken studiert und die Kleidung der Hauptrollen nachbauen lassen, deren Ankleiden eine ewige Prozedur ist.

Anzeige
Anzeige

„Wir werden sehr genaue Repliken aller historischen Originalkostüme ma­chen. Zur Veranschaulichung: Jedes dieser Kostüme wird in sieben Kisten gelagert werden. Es war ziemlich beeindruckend für mich, als ich herausfand, dass alle Kostüme, die die Könige und Königinnen tragen mussten, zum Gefängnis für den Körper wurden, weil sie keine Möglichkeit hatten, selbst etwas zu tun. Sie brauchten Helfer, Diener, manchmal sogar Menschen, die ihnen beim Gehen halfen, weil die Kleidung so sperrig war. Ich fand das seltsam und interessant. Da hatten diese Menschen die absolute Macht, aber waren am Beispiel ihres Körpers und ihrer Kleidung nicht frei. Und genau darum geht es in der Oper: um die Freiheit. Auch die des Körpers.“

Kiril Serebrennikov
Im Dach der Oper. Sechster Stock in der Oper, Eberhard-Waechter- Probebühne: Hier entstand dieses Foto von Regisseur Kirill Serebrennikov.

Foto: Victoria Nazarova

Was bedeutet Freiheit für Sie?

Ich weiß recht gut, was Freiheit ist, weil ich vor allem weiß, was die Abwesenheit von Freiheit bedeutet. Freiheit ist nicht nur das Fehlen von Regeln und Vorschriften. Es ist nicht nur die Abwesenheit von Gefängnissen und Mauern um dich herum. Freiheit ist eine besondere Haltung, es bedeutet auch, sicher zu sein. Man ist nicht frei, wenn man nicht sicher ist, wenn man nicht gesund ist. Verdi war aufgrund der politischen Situation in Italien ziemlich besessen von der Idee der Freiheit und der Frage „Wie kann man Freiheit erlangen?“.

Sie haben bereits in „Parsifal“ sehr dezent Videozuspielungen eingebaut, um etwas eingerostete Libretti-Passagen neu und schneller zu erzählen. Was erwartet uns bei „Don Carlo“? 

Ich komme aus dem Theater, ich habe Theater gelernt und erst danach auch fürs Kino gearbeitet. Ich erwähne das nur, weil manche glauben, es sei umgekehrt. Wir haben ein paar Dreharbeiten für den Verdi und werden dabei sehr tief und nahe an die Textur des Kostüms und die Oberflächen der Haut herangehen – wir gehen damit auch tief in die Natur der Person hinein. Es geht uns um das tiefe und enge Verständnis der Natur.
Man kann die Idee der Freiheit nicht verstehen, ohne die Idee der Natur der Person und der Natur des Volkes zu begreifen.

Sind die Menschen zu dumm oder zu faul für den Frieden und die Freiheit?

Hören Sie: Es ist besser, das Wort „dumm“ nicht zu benutzen. Es ist besser zu sagen: „Mangel an Bildung“. Das Hauptproblem, unserer Zeit ist die Unwissenheit.

… nur Unwissenheit?

Die Menschen wissen nichts über sich selbst. Sie wissen nichts über ihr Leben und die Natur und wie eine Gesellschaft aussehen könnte. Es gibt Menschen, die sagen: „Wir brauchen keine Freiheit. Wir brauchen mehr Essen. Das reicht völlig aus.“ Darauf sage ich: Wenn es an Freiheit mangelt, dann mangelt es auch bald an Nahrung, denn das hängt alles irgendwie zusammen. Es ist alles miteinander verbunden.

Ermüdet diese Unwissenheit, diese vielen Verschwörungstheorien, dieser Unsinn, der da von vielen Menschen im Netz ­verbreitet wird, nicht auf Dauer?

Natürlich. Man ist ausgebrannt. Man fühlt sich leer gespielt von den schlechten Nachrichten um einen herum. Manchmal will man seine sozialen Medien gar nicht öffnen, weil es nichts Gutes gibt. Alles ist schrecklich, noch schlimmer und noch schlimmer. Ich lese eine Menge Nachrichten aus Russland, über den Krieg, über Nawalny, über alles. Es wird schlimmer und schlimmer und schlimmer. Das Gegenstück zu diesen schlechten Nachrichten und schlechten Dingen sind die Katzen auf Instagram. Katzen und schlechte Nachrichten, das ist unsere Online-Welt.

Die Musik ist so verdammt schön. Sie ist stark, emotional – sie braucht keine Interpretation mehr.

Kirill Serebrennikov über Verdi

Kann irgendwas die Welt retten? Die Musik?

Nichts kann die Welt retten. Oper und Kunst sind eine Möglichkeit, unser Leben besser zu machen und uns in den dunkelsten Zeiten zu helfen. Deswegen sind Oper und Musik heute wichtiger als früher, weil die Menschen ziemlich frustriert sind – sie müssen die Schulter eines anderen Menschen spüren. Im Theater ist alles möglich, wenn man die gleiche Luft mit anderen Menschen atmet, wenn man sich diese Geschichten auf der Bühne ansieht.

Wie geht es Ihrer russischen Seele, wenn Sie auf den Zustand Ihrer Heimat schauen? Würde es der Welt nicht besser gehen, wenn Putin endlich stirbt?

Die russische Seele gibt es nicht. Genauso wenig wie eine griechische Seele oder eine österreichische Seele. Ich glaube nicht daran. Es ist ein Mythos und eine künstlerische Übertreibung. Und zu Putin: Ich will nicht über den Tod von Menschen nachdenken. Die Geschichte zeigt, dass viele Diktatoren ein langes Leben hatten. Putin hat eine dunkle Zeit begonnen. Ich habe nur mehr eine Verbindung zu Russland: Mein Vater lebt noch dort, er ist 90 Jahre alt. Wir telefonieren täglich, und ich versuche, ihm zu erklären, was in meinem Leben gerade so passiert. Mein Zuhause ist mittlerweile meine Arbeit und jene Orte, an denen ich Regie führe. Ich bin zufrieden mit meinen Arbeitsplätzen – also auch mit meinem Zuhause.

Was kann Verdi, was andere Komponisten nicht können?

Die Musik ist so verdammt schön. Sie ist stark, emotional – sie braucht keine Interpretation mehr. Sie sollte einfach nur von guten Musikern gespielt werden. Das ist völlig ausreichend. „Don Carlo“ braucht daher keine überkonzeptionelle Regie. Es geht nur um die Musik und eine starke Präsenz der Sänger*innen. Dieses Stück ist ein Meisterwerk und daher auch eine besondere Herausforderung für jeden Regisseur.

Ich liebe es – aber ist Oper grundsätzlich nicht einfach nur großer Kitsch, vor allem bei Puccini, Verdi und Co? 

(Lacht.) Das kommt darauf an. Wenn man es kitschig machen will, wird es einem sehr einfach gemacht. Man öffnet die Tür – und es wird Kitsch. Aber wenn man etwas anderes findet in diesem alten – ich sage bewusst nicht altmodischen – Medium, ja dann … Oper ist am Ende des Tages nichts anderes als ein Medium, so wie es viele andere Medien auch gibt. Und wie all diese Medien dient es der Kommunikation, um Menschen einander näherzubringen, um eine Gemeinschaft zu bilden.