Es sind nur 476 Sekunden. Und diese sieben Minuten und 56 Sekunden sind so schön, überirdisch und schier unglaublich, dass es sich allein schon für diese kurze Zeitspanne lohnen würde, Opernkarten zu kaufen. Ganz leise, fast unhörbar zärtlich beginnt die Melodie, die mit jedem gespielten Takt immer größer, lauter wird und am Ende eine Welle, einen schwebenden Raum erschafft, der alle – Musiker wie Publikum – umspült. Das Instrumentalstück – das „Lohengrin“-Vorspiel – ist so filigran gezaubert, dass dessen Effekt von frühen Wagner-Fans mit einem Opiumrausch verglichen wurde und von Anton Bruckner als „göttliche Vision“. Wagner selbst übrigens beschrieb sein „Lohengrin“-Vorspiel als „wunderwirkende Darniederkunft des Grales im Geleite der Engelsschar“.

Anzeige
Anzeige

Die Mörderin wird gleich geoutet

Christian Thielemann wird wie bei der Premiere in Salzburg (es ist eine Koproduktion mit den Osterfestspielen) am Pult stehen und (alles andere ist undenkbar) alle verzaubern – während Malin Byström zu den Klängen des Intros als Elsa einsam an einer riesigen, düsteren Hafenanlage herumwandern wird. Oben auf dieser Hafenmole (Bühnenbild: Anna Viebrock) steht ihre Gegenspielerin Ortrud, die alles beobachtet. Elsa wird ins Wasser greifen ... Was dann passiert, sei noch nicht verraten, außer dass es nicht so sein wird wie in Salzburg, wo Elsa eine nasse Perücke aus den Fluten fischte. Das Regieduo Sergio Morabito und Jossi Wieler hat – durchaus spektakulär – nachgeschärft. Klar ist nur: Elsa hat ihren Bruder Gottfried ermordet.

Zur Person: Malin Byström

Die schwedische Sopranistin verfügt über ein unglaubliches Repertoire: Mozart, Verdi, Puccini usw. Ihren Durchbruch hatte sie als Salome, die sie bereits an vielen großen Häusern erfolgreich gesungen hat. Sie sagt: „Ich liebe Strauss, möchte aber Verdi nicht verlieren. Er tut mir und meiner Stimme gut.“ Eines ihrer Ziele: die Isolde. Ihr Debüt in Wien sang sie 2020: Elisabeth in „Don Carlos“.

Das sagt Thielemann

Christian Thielemann gefällt’s: „Wissen Sie, ich habe ja den ‚Lohengrin‘ schon in den verschiedensten Inszenierungen dirigiert, aber ich habe nie mit Morabito und Wieler gearbeitet, und das wollte ich. Da war ich mir dann mit Roščić schnell einig, und es war gebongt. Manche Dinge gehen ja leichter, als man denkt. Und ich finde, es ist eine sehr interessante Idee von Wieler und Morabito, die da entstanden ist. Ich war sofort von dieser Idee angetan, weil sie neu ist, aber nicht alles über den Haufen wirft.“ Es ist ja so: Es gibt Menschen, die „Lohengrin“ schon gesehen und noch nie verstanden haben, um was es eigentlich geht, und eben auch jene Menschen, die kurz in die Geschichte hineingelesen und aufgegeben haben.
Was haben Sergio Morabito und Jossi Wieler also getan, dass Thielemann derart begeistert ist? Ganz einfach. Aber lassen wir Sergio Morabito selbst zu Wort kommen: „Es ist wie jedes Kunstwerk ein Rätsel, auf das es nicht die eine richtige Antwort gibt. Wir entdecken in der Geschichte ein altes Märchenmotiv: Ein König stirbt und hinterlässt zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, die um ein Jahr älter ist als ihr Bruder. Ein Streit um die Thronfolge entflammt: Die Tochter sagt: ,Ich bin die Ältere.‘ Bruder sagt: ,Das spielt keine Rolle, denn du bist eine Frau.‘ Dieser Zwist zwischen Gottfried und Elsa ist die Vorgeschichte, und nach dem Verschwinden von Gottfried taucht Lohengrin auf – beschworen von Elsa.“

Anzeige
Anzeige

Ein Lohengrin, so unser Eindruck nach der Premiere in Salzburg, der als ziemlicher Dodel dargestellt wird.

Die Oper ist sehr leicht zu verstehen. Da braucht niemand Angst davor zu haben. Versprochen.

Christian Thielemann, Dirigent

Lohengrin, ein neuer Typ Mann

Sergio Morabito lacht, widerspricht aber mit großer Vehemenz: „Na ja, zunächst wird er von allen als neuer Typ Mann wahrgenommen, wie Elsa sagt: ‚Ich keinen noch ersah.‘ So einen Typ Mann gibt es in ihrer patriarchalen, aufgerüsteten Gesellschaft nicht. Es ist wie eine Massenverliebtheit, die ausbricht. Da ist einer, der weich ist, fast lyrisch, der sich nicht scheut, seine Liebe zu zeigen, der nicht so ein Macho ist wie alle anderen. Er ist ein Mann, wie sie ihn sich erträumt.“

Einer der größten Unterschiede zu Salzburg ist die Besetzung. Georg Zeppenfeld ist König Heinrich – er ist auch Teil einer der großartigsten „Lohengrin“- Einspielungen aus Bayreuth. David Butt Philip ist Lohengrin. Malin Byström ist die Elsa und Anja Kampe die Ortrud.

Die Unterschiede zu Salzburg

„Alleine durch diese Sänger*innen wird sich der ‚Lohengrin‘ in Wien von der Premiere in Salzburg unterscheiden. Es geht ja immer darum, wie Künstler Ideen übersetzen. Theater ist etwas Lebendiges, und so eine Koproduktion ist auch ein Anlass, das Ding neu aufzurollen, neu zu präzisieren. Die räumlichen Koordinaten sind natürlich anders. In Salzburg ist es Cinemascope, hier etwas kleiner.“

Was ist für Sergio Morabito das Geheimnis von Wagner?

Wiener Staatsoper
Blick aufs Bühnenbild. Anna Viebrock hat eine monströs-poetische Hafenlandschaft kreiert. Hier die Bühne von den Salzburger Osterfestspielen, mit denen „Lohengrin“ koproduziert wurde. Das Foto stammt aus dem Jahr 2022, die Darstellerin damals war Jacquelyn Wagner – in Wien wird Malin Byström singen.

Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

„Er ist ein großer Manipulator, und es ist sehr verführerisch, sich auf ihn einzulassen. Wir stellen uns dieser Verführung und Verzauberung, denn ‚Lohengrin‘ ist ja Teil der Schwarzen Romantik. Wagner selbst sagte: ,Lohengrin ist mein tragischstes Stück‘, und dem muss man sich ausliefern.“

Es ist ja spannend: Mit „Lohengrin“ schuf Richard Wagner nach dem „Fliegenden Holländer“ und „Tannhäuser“ die letzte seiner drei großen romantischen Opern. Ein inhaltlich und vor allem musikalisch extremer Bruch folgte. Was ist da passiert? Was ließ Wagner plötzlich so schwer werden, Herr Morabito? „Wie Lohengrin hat sich Wagner zurückgezogen. Er hat sich aus der Theaterwelt verabschiedet und versucht, sich neu zu erfinden. Er hat gemerkt, er kann nicht mehr für den Markt produzieren, und ihm schwebte etwas anderes vor, etwas Größeres.“ Von diesem Satz eine Überleitung zu unserem nächsten Interviewpartner zu finden kann nur scheitern. Es ist jene Person, die vermutlich am Premierenabend (Byström und Zeppenfeld werden mir verzeihen) über den größten Star-Appeal verfügt: Dirigent Christian Thielemann. Das Gespräch mit der BÜHNE entstand vor der Premiere in Salzburg.

David Butt
David Butt Philip ist Lohengrin. Der Engländer sagt: „Man muss elegant und schön singen können, aber auch in der Höhe über das Orchester kommen. Das ist meine Stärke, ich bin halber Heldentenor und halber lyrischer Tenor.“

Foto: Sophie Green

Herr Thielemann, Sie wirken in letzter Zeit so entspannt, es gibt kaum noch Schlagzeilen über Ihre emotionalen Ausbrüche. Tut es Ihnen im Rückblick manchmal leid, dass Sie so viel Energie mit Empörung und Ärger verloren haben?

Sehr. Aber dagegen können Sie nichts machen. Man ist so, wie man ist. Ich habe Studenten, die mir sagen: „Toll, wie klein Sie dirigieren – sollen wir das auch machen? “Ich antworted ann:„Bloß nicht! Wenn ihr mit 24 oder 25 so klein dirigiert, dann sagen die Leute, dass ihr Langweiler seid. Daher tobt euch erst mal aus.“ Mein Gott, habe ich früher wild dirigiert. Ich konnte den ganzen „Tristan“ durchbrettern und hatte die Energie, ihn gleich noch mal zu machen. Aber ich war nicht zufrieden mit mir. Ich dachte: Ich habe alles gegeben. Aber genau das war der Fehler! (Er lacht herzlich.) Ich habe eine Berliner Schnauze und bin sehr liberal erzogen worden. Ich bin immer animiert worden, meine Meinung zu sagen. Wenn du es dann aber machst, sagen die Menschen „Der ist undiplomatisch.“ Die Wiener Philharmoniker zum Beispiel verstehen mich, da habe ich ein großes Vertrauen. Ich stehe vor dem Orchester und kann ganz ich selbst sein.

Ist das ein Zustand, den Sie mögen?

Sehr sogar. Ich rege mich ganz anders auf, als ich es früher getan habe. Günter Wand hat einmal beim Studieren von Partituren etwas sehr Zutreffendes gesagt: „Die Noten gucken einen alle so friedlich an, und keiner spielt falsch.“ Und so denke ich mir: Ach, Bruckners Neunte liegt da vor mir und gehört mir ganz allein, und dann kann ich nicht widerstehen und höre in den Furtwängler rein und den Bernstein, und ich höre mir meine geliebten Wiener Philharmoniker an und denke: Interessant, wie der Kollege das so macht.

Christian Thielemann
Die Legende ist einer jener wenigen Dirigentennamen, die Häuser füllen. Wenn er dirigiert, sitzen selbst die Musiker des Staatsopernorchesters gespannt auf der Sesselkante. Thielemann ist auch der breiten Öffentlichkeit bekannt – etwa durch das Dirigieren des Neujahrskonzerts. Im BÜHNE-Gespräch sagt er: „Kommt alle mal runter!“

Foto: Ruth Walz

Da fühle ich eine Art von Milde und kann dabei auch etwas lernen. Wissen Sie – und das soll jetzt nicht die Schlagzeile dieser Geschichte werden: Ich bin altersmilde geworden. Toleranter. Ich habe so viele Inszenierungen vom „Lohengrin“ dirigiert, deshalb freue ich mich, wenn einmal eine andere Idee daherkommt, ein anderer Zugang. Genauso freue ich mich, wenn Kollegen ein Stück anders dirigieren. Manchmal sage ich: Gefallen tut es mir nicht, aber ich finde es toll, dass das einer genau so macht.

Ich behaupte, es gibt drei Arten von Menschen: die Wagner-Fans, die Wagner-Hasser und jene mit Vorurteilen. Wie kriegt man Letztgenannte?

Der „Lohengrin“ ist ein Schlager. Wenn Sie etwa Verdis „Aida“ mit dem „Lohengrin“ vergleichen, dann werden Sie feststellen, dass beide etwas gemein haben: nämlich diesen bedingungslosen Willen zur Melodie. Deswegen hat man immer gesagt, „Lohengrin“ sei eine italienische Oper – was ich kurios finde. Bei „Lohengrin“ hinzuhören lohnt sich doppelt und dreifach. Es gibt ja ein Stück, das jeder kennt: den Hochzeitsmarsch, von dem viele nicht wissen, dass er von Wagner ist. Mir hat die Geschichte immer so wahnsinnig gefallen: wie der Lohengrin auf dem Schwan daherkommt, das ist so märchenhaft. Die Oper ist sehr leicht zu verstehen. Da braucht niemand Angst davor zu haben. Versprochen.

Gibt es eine Botschaft an die Menschheit, die Sie gerne loswerden möchten?

(Thielemann beginnt herzlich zu lachen.)

Meine Einsicht und Botschaft lautet: Kommt alle mal runter! (Lacht.)

Georg Zeppenfeld
Georg Zeppenfeld ist König Heinrich. Der Deutsche sagt: „Wenn man so eine Partie singt, dann ist das wie eine Seereise: Du gehst auf ein Schiff, fährst los und weißt nicht, ob und wie du ankommst.“

Foto: Victoria Nazarova

Hier zu den Spielterminen von Lohengrin!