Vollgas raus aus dem Hades
Tom Morris hat mit seinen Regiearbeiten weltweit ein Millionenpublikum begeistert. Jetzt inszeniert er an der Staatsoper „L’Orfeo“ als Bilderfest. Georg Nigl gibt den Rockstar, Slávka Zámečníková stirbt an einer Überdosis, und Kate Lindsey begleitet Orfeo in die Unterwelt.
Es wird die Hochzeit des Jahres. Und wir alle sind eingeladen. Treffpunkt: 11. Juni, Wiener Staatsoper. Wenn Sie da verhindert sein sollten, kein Problem: Das Fest geht in Serie. Dresscode: was man halt so trägt, wenn ein Rockstar „Ja“ sagt. Unsere Empfehlung: romantische Avantgarde. Aber wenn Sie nichts Derartiges zu Hause haben, auch egal. Kopfbedeckung? Eher nicht, Sie könnten vor jemandem sitzen.
L'Orfeo von Claudio Monteverdi
Monteverdi taucht in die griechische Sagenwelt ein und vertont die Geschichte um Orpheus und Eurydike. Sein Werk wird häufig als die erste Oper bezeichnet. Eine kurze Zusammenfassung, die gleichzeitig eine Auffrischung in griechischer Mythologie ist, lesen Sie hier. Weiterlesen...
Taschentücher nicht vergessen. Denn Tränen wird es geben. Vor Glück, vor Trauer und vielleicht auch vor Wut wegen der Ausweglosigkeit des Lebens. Aber zuerst wird einmal richtig gefeiert. Herzlich willkommen bei einer der ältesten Opern der Welt! Herzlich willkommen bei Monteverdis „L’Orfeo“! Sie wissen schon: Das ist die Geschichte des Mannes, der seine Frau aus dem Totenreich holen will und sich nicht umdrehen darf.
Man könnte sie auch anders erzählen. Nämlich so: „Jemand stirbt, und ein Künstler sagt: Das akzeptiere ich nicht, ich werde den Tod mit meinem Herzen bekämpfen. Und dieser Mann ist der ultimative Rockstar. Er bewegt die Herzen der Menschen, die seine Musik hören, und er kann noch mehr: Er stoppt mit seinem Gesang die Zeit.“
Gut. Klingt besser. Kein Wunder. Der Mann, von dem diese Beschreibung stammt, ist ja auch Tom Morris, und er wird „L’Orfeo“ inszenieren.
Die Sache mit der Fallhöhe
Morris ist selbst ein Weltstar, er hat – und das ist keine Übertreibung – Theater- und Showgeschichte geschrieben. Nicht nur, dass er das legendäre Bristol Old Vic als Direktor neu aufgestellt hat. Seine „War Horse“-Produktion lockte hunderttausende Menschen weltweit ins Theater, wurde von Steven Spielberg verfilmt und mit einem Tony Award bedacht und setzte neue Standards im Spiel zwischen Publikum und Bühne.
Jetzt gerade (bei Erscheinen dieses Artikels hoffentlich nicht mehr) sitzt Tom Morris in der Probebühne der Wiener Staatsoper und beißt in ein Trzesniewski-Brötchen. Sein Bruder ist Chris Morris, Regisseur von „Four Lions“, einer der aberwitzigsten Komödien, die jemals in England gedreht wurden. Aber das nur nebenbei, es tut nichts zur Sache.
„Das, was mich interessiert, sind diese einzigartige Musik und die Frage, wie man ihre emotionale Bedeutung ins Jetzt bringt.“ Tom Morris ist pure Leidenschaft. Barrieren zwischen Publikum und Bühne will er niederreißen, sagt er, und da wären wir wieder bei der Einladung an uns alle. Morris: „Kennen Sie die Quäker? Nein? Das ist eine christliche Gemeinde aus dem 16. Jahrhundert. Wenn Quäker Hochzeit feiern, dann müssen alle Gäste die Eheschließung mit ihrer Unterschrift legitimieren, und damit sind sie mit dem Brautpaar emotional verbunden. Wir wollen in der Staatsoper so eine Atmosphäre schaffen. Wir wollen, dass alle ganz, ganz fest an diese Ehe glauben und hoffen, dass diese Liebe für immer ist.“
Morris macht eine winzige Pause und lächelt. „Weil wenn wir das schaffen, dann haben wir gewonnen. Je größer die Liebe, desto größer die Tragödie. Wenn das Publikum die Handlung, die jeder kennt, vergisst, dann wird Theater magisch.“
Der Emotionszauberer
Spektakulär ist dies Morris geglückt, als er für seine „War Horse“-Produktion lebensgroße Pferdemarionetten aus Holz bauen ließ, die so clever (von sichtbaren Menschen mit Stangen) bewegt wurden, dass sie im Auge der Betrachter wirklich lebendig wurden. Eines der Geheimnisse lag im richtigen Bewegen der Pferdeohren – aber zurück zu Orfeo.
Morris, Absolvent einer Jesuitenschule: „Die Schönheit des Glaubens ist, dass Menschen etwas glauben, was unmöglich ist. Stellen Sie sich das einmal vor: Orfeo singt in der Hölle und hat für einen einzigen, großartigen Moment alles. Für einen Moment stoppt er die Hölle. Laut Ovid sind alle da: Sisyphus, Tantalus und Prometheus, und plötzlich steht die Zeit still. Sogar Sisyphus hört auf, seinen Stein bergauf zu rollen.“ Morris holt kurz Luft, und wir nutzen die Chance und schießen eine Frage dazwischen: Wird man das alles auch auf der Bühne sehen? Morris lächelt. „Alle, die Musik lieben, kennen das: Man vergisst beim Hören irgendwann die Zeit. Monteverdi nutzt diese Magie und diese Möglichkeit des Zeitstillstandes, den wir geschenkt bekommen, um aus unserem Alltag auszusteigen.“ Das war zwar nicht die Antwort auf unsere Frage, aber es war trotzdem schön.
Wir dürfen Ihnen keine Bilder zeigen – das würde zu viel verraten –, aber ein wenig beschreiben, was auf den ersten Entwürfen zu sehen ist, dürfen wir schon. Also: Zu Beginn ist das zentrale Bild eine überdimensionale Hochzeitstafel – eingerahmt von drei riesigen Bäumen. Deren Kronen sind Lichterkugeln, die aus einem großen Knäuel aus Lichterketten bestehen. Die Hochzeitstafel kann – und das merkt man erst später – an den Bäumen nach oben gefahren werden. Darunter: der Hades. Und die Kostüme? Die sind ganz im Stile der – richtig – romantischen Avantgarde.
Von einem, der gefordert sein will
„Diese Geschichte ist doch brandaktuell und hätte heute als Schicksalsgeschichte in den Chronikseiten des Boulevards stehen können: ‚Drama! Braut stirbt eine Stunde nach Hochzeit bei Autocrash – Bräutigam verzweifelt!‘ Ich finde, dass wir das so machen, ist ziemlich naheliegend.“ Der das sagt, ist sicher der wienerischste aller Opernstars: Georg Nigl. Er ist Orfeo, der Rockstar. Das Projekt gefällt Nigl, es fordert ihn:
„Ich bin kein Sänger, den man als Bariton engagiert. Aber die künstlerische Konstellation reizt mich. Tom Morris hat einen Theaterzugang, den ich sehr mag. Große Regisseure wie Andrea Breth oder Hans Neuenfels arbeiten genau so. Beim Sprechtheater habe ich einen Text und muss die Strenge finden. Bei Monteverdi habe ich die Strenge und muss darin die Freiheit finden. Bei ‚L’Orfeo‘ ist es dieser unglaubliche Aufbau, und dann bricht diese totale Einsamkeit aus.“ Georg Nigl, der als Kind schon bei den Sängerknaben gesungen und mit den beeindruckendsten und erfolgreichsten Dirigenten und Regisseur*innen gearbeitet hat, ist Tom Morris in seiner Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit nicht unähnlich.
Der Ton ist immer im Jetzt
Nigl: „Das Stück zeigt die ganz große Kraft der Musik. Sie wird gleichgestellt mit der Liebe und dem Göttlichen. Wir leben in einer Zeit der Krise, und ‚L’Orfeo‘ ist das Stück zu unserer Zeit, weil es um die größte Krise überhaupt geht und die Frage: Kann ich mein Schicksal verändern?“ Der Sänger wirft die Frage in den Raum und beantwortet sie auch gleich selbst: „Nein! Natürlich kann ich es nicht. Was ich aber schon kann: Wenn ich es schaffe, dass ich ein paar Menschen im Publikum berühre mit dem, was ich tue, und sie von einem Aggregatzustand hinüber in einen anderen begleiten darf, dann ist mein Job in der Nähe des Gelingens.“
Nigl macht eine kurze Pause und setzt nach: „Sie müssen sich das vorstellen: Da geht der Typ wirklich runter in den Hades und singt alle in Grund und Boden. Wer sonst kann das? Welche Kunstform schafft so etwas?“ Und dann sagt Georg Nigl einen wunderschönen Satz: „Der Ton ist immer im Jetzt, der hetzt nicht in die Zukunft oder in die Vergangenheit. Film zum Beispiel ist immer Vergangenheit. Aber die Bühne ist im Jetzt. Die Träne der Einsamkeit kennen wir alle, wenn du niemanden hast, der dich tröstet. Aber wenn ich das geriere, was Monteverdi mir in die Hand gibt, dann bin ich zwar allein, aber nicht einsam – weil alle auf der Bühne und im Zuschauerraum bei mir sind.“
Spannend, wie sehr das Werk im Vorfeld der Produktion die Macher emotionalisiert, wie sehr es sie beschäftigt. Immer wieder steht ja der Vorwurf im Raum, dass Sänger*innen nur mehr ihre Rollen abspulen. Bei den Proben zu „L’Orfeo“ ist davon nichts zu spüren. Mehr Emotionalität geht nicht – und das bei einem Werk, das vor 400 Jahren komponiert wurde.
Im Jahre 1606 setzt sich Claudio Monteverdi an das Pult in seinem Arbeitszimmer am Hofe des Herzogs Vincenzo I. Gonzaga und beginnt mit der Arbeit an „L’Orfeo“. Seit 16 Jahren lebt er bereits in Mantua, hat die Sängerin Claudia Cattaneo geheiratet. Die Arbeitsbedingungen am Herzogshof sind perfekt: Ein großes Orchester steht Monteverdi zur Verfügung, wunderbar ausgebildete Sänger. Alles da – nur die Musikform Oper gibt es so noch nicht, beziehungsweise nur in Ansätzen. Monteverdi wird der Erste sein, der Erfolg damit haben wird – und Jacopo Peri (er war ein paar Jährchen vorher dran) wird vom breiten Publikum vergessen sein.
Die Uraufführung von „L’Orfeo“ im Februar 1607 ist ein Triumph. Tragisches Fakt: Wenige Monate später stirbt Monteverdis geliebte Frau. Der Komponist bricht zusammen.
Die Reise zum Klick-Hit
Tom Morris, der das Vehikel Theater so gut versteht wie kaum ein anderer, vertraut auf die Kraft des Liveevents – und der sollte großartig werden: Besser besetzen kann man Monteverdi derzeit nicht. Kate Lindsey als La Musica und La Speranza, Christina Bock ist Proserpina/ Messaggiera und Slávka Zámečníková ist Euridice.
Eine Besetzung und eine Inszenierung, die definitiv das Zeug dazu haben, Musikgeschichte zu schreiben und endlich auf YouTube die unsägliche Inszenierung des Gran Teatro del Liceo de Barcelona von Platz eins der meistgeklickten „L’Orfeo“-Inszenierungen zu stoßen.So. Aber zuerst wird Hochzeit gefeiert. Und wir sind alle eingeladen.