von Thomas Voigt

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Chicago, Samstag, 23. September 1995, konzertante Aufführung der „Meistersinger“ in der Orchestra Hall. Georg Solti dirigiert: heute die beiden ersten Akte, morgen den dritten. Die Decca schneidet mit. 

„Thomas, I’m sorry, but Sir Georg can’t do the interview tomorrow. But he asks you to come to his dressing room after the first act, so you’ve got at least 20 minutes“, sagt die PR-Frau der Decca und lächelt gewinnend. Nur 20 Minuten, oje. Geplant waren anderthalb Stunden für ein großes Interviewporträt. Na gut, besser als gar nichts. 

In der Orchestra Hall wird es still. Auftritt Solti. Er sprintet zum Pult, sticht ins Orchester. Was folgt, sind 83 Minuten Nonstop-Aerobic: Hände, Arme und Schultern pausenlos im Einsatz. Fast so, wie man es von der BBC-Dokumentation seiner legendären Wiener „Ring“-Aufnahme kennt. Und das ist immerhin dreißig Jahre her. Die Musiker und Chorsänger agieren mit plattenreifer Präzision: Das heikle Finale I und die noch heiklere Prügelszene klingen völlig unfallfrei, derart perfekt einstudiert, dass es fast schon unheimlich ist. 

Aus dem Sängerensemble ragt Karita Mattila hervor, groß, blond und gestylt wie Zsa Zsa Gabor bei der Oscarverleihung. Wenn ihr Bühnenvater,  der 31-jährige René Pape, sie später fragt: „Und du, mein Kind? Du sagst mir nichts?“, und sie antwortet: „Ein folgsam Kind, gefragt nur spricht’s“, muss ich einen Lacher unterdrücken. Doch rein akustisch sind sie so glaubwürdig wie erstklassig. 

„Grau-en-voll"

Pause. Man führt mich zu Soltis Garderobe. „Sir Georg …“ – „Herr Solti!“ – „Ich wundere mich, dass Sie bei einem derart anspruchsvollen Stück in der Pause noch Interviews geben.“ – „Ja, schauen Sie, wenn ich mich jetzt ausruhe, dann ist das wie bei einem Oldtimer, wo man den Motor abgestellt hat und den man dann später wieder mühsam ankurbeln muss. Ich kann es mir nicht leisten, ein Greis zu sein. Schließlich habe ich zwei junge Töchter, und denen kann ich doch nicht zumuten, mit einem alten Opa schwimmen zu gehen. Was möchten Sie wissen?“ 

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Wir sprechen 15 Minuten über die „Meistersinger“. Ihn reizt vor allem die kammermusikalische Struktur des Stücks. Zum Schluss kann ich mir die Frage nach der Salzburger „Zauberflöte“ unter Toscanini nicht verkneifen. Solti war damals, im Sommer 1937, Toscaninis Assistent und in den Aufführungen der „Zauberflöte“ der Glockenspieler. 

„Grau - en - voll!“, tönt die heisere Stimme Soltis, „bei allem Respekt für Toscanini, den wir alle vergöttert haben, mit Recht! Aber Mozart war nicht seine Sache. Und die Besetzung! Helge ­Rosvaenge: ein großer Sänger, aber kein Tamino. Jarmila Novotná: eine bildschöne Frau und wunderbare Künstlerin, aber keine Pamina. Die Königin der Nacht: Totalausfall! Und ihre drei Damen waren wie Walküren!“ Plötzlich wandelt sich seine Miene zu einem breiten Grinsen: „Also, das einzig Gute bei dieser ‚Zauberflöte‘ war der Glockenspieler!“ 

Foto: TomPe

Zur Person: Thomas Voigt

Journalist, Autor, Coach und Dokumentarfilmer (u. a. Dokus über Birgit Nilsson, ­Elisabeth Schwarzkopf und Lisa della Casa), von Kindesbeinen an mit Oper und Sängern beschäftigt, seit 35 Jahren ­professionell.