„Wenn Du einem Mörder die Hand gibst, würdest Du ihn erkennen?" Diese Frage in Thérèse Raquin steht zentral für die Thematik in Tobias Pickers gleichnamiger Oper. Jeder kann Täter werden, jeder kann Opfer sein. Die „Bestie Mensch" steckt vielleicht in allen von uns und kann sich deshalb auch im Schatten zwischen uns bewegen. Doch wodurch tritt sie ans Tageslicht: Genetik? Not? Durch unglückliche Umstände? In der Wiener Kammeroper des Theater an der Wien ist das Werk in der Regie von Christian Thausing zu sehen. Die BÜHNE hat den österreichischen Regisseur am Rande der Proben von Thérèse Raquin getroffen.

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Milieustudie unter dem Brennglas

Die Bühne wirkt, als wäre sie seit Wochen bewohnt. Der Eindruck täuscht nicht, wie Thausig verrät, da die Sänger:innen und das künstlerische Team teilweise sogar darauf essen. Das liegt aber nicht nur am Zeitmangel während der Endproben, sondern ist ein gewollter Effekt. Denn die Oper in elf Bildern basiert auf einem Buch von Émile Zola – dem Begründungsroman des französischen Naturalismus. „Es war ziemlich schnell klar, dass auch das Setting naturalistisch wird. Wir haben das Stück daher in der Wohnung der Raquins angesiedelt", sagt Thausing.

Die Handlung spielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, aber, so Thausing, „die Zeit spielt eigentlich keine Rolle, da es eine Milieustudie der Mittelschicht ist". Zola hat mit Thérèse Raquin ein Werk geschaffen, das die verschiedenen Figuren wie unter einem Brennglas betrachtet. Alle wurden mit unterschiedlichen „Temperamenten" ausgestattet. Der Autor beobachtete anschließend mit kühler Analytik, wie sie sich zueinander verhalten. In den beengten räumlichen, finanziellen und sozialen Verhältnissen kollidieren unerfüllte Träume und unterdrückte Leidenschaften schließlich in explosiver Weise.

Julia Mintzer Connor (Laurent) in Tobias Pickers Oper Thérèse Raquin, nach einem Roman von Emilè Zola.

Foto: Herwig Prammer

Beengte Verhältnisse, unterdrückte Träume

Die Voraussetzungen für die Handlung – von der nicht zu viel verraten werden soll – bilden den Unterbau für die Tragödie: Thérèse Raquin wurde nach dem Tod der Mutter vom eigenen Vater zur Tante gebracht. Dort lebt auch deren kränklicher Sohn Camille. Thérèse wächst mit ihnen auf und wird von der strengen Tante dazu erzogen, sich aufopferungsvoll um Camille zu kümmern. So schläft sie nicht nur im gleichen Bett mit ihm und muss sein ständiges Husten, seine Schweißausbrüche und Gerüche ertragen, sondern nimmt auch die gleichen Medikamente ein, obwohl sie gesund ist. Später wird sie von der Tante dazu gezwungen, ihn zu heiraten. Der chronisch-kranke Sohn soll dadurch über den Tod der Tante hinaus versorgt werden. Camille agiert hingegen wie ein Kind, das sich in dieser umsorgten Position wohl fühlt.

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In dem Stück ist jeder Opfer seines Nächsten. Aber es ist auch jeder Täter."

Christian Thausing

In diesem Setting leidet Thérèse Raquin. Denn eigentlich ist sie sehr emotional. Ihre Natur muss sie fortwährend unterdrücken, bis sie den gescheiterten Künstler Laurent kennenlernt. Durch ihn kommt das ganze feurige Temperament in Thérèse zum Ausdruck und die Katastrophen nehmen ihren Lauf. „In dem Stück ist jeder Opfer seines Nächsten. Aber es ist auch jeder Täter. Das ist das Packende an dem Stück. Es ist ein absoluter Thriller der Opernliteratur", sagt Thausing. Und der Regisseur ergänzt: „Es ist leider kein Wohlfühlabend, aber wer packendes Musiktheater erfahren möchte ist herzlich eingeladen. Dieses Stück geht uns leider alle an und fesselt vom ersten Ton. Am Ende bleibt hoffentlich ein Unbehagen und man stellt sich Fragen über unsere Gesellschaft."

Spiel mit den Extremen auch in der Musik

Die Musik des zeitgenössischen US-amerikanischen Komponisten Tobias Picker (Jahrgang 1954) greift dieses Spiel mit unterdrückten Emotionen und extremen Ausbrüchen auf. Picker komponierte seine Thérèse Raquin 2001 zunächst für großes Orchester, 2006 adaptierte er sie als Kammerfassung. Thausing beschreibt die Musik: „Es ist ein ständiges Aufbauen und Zerfallen. Es hat schöne, sehr harmonische Momente, die aber gleich wieder implodieren und ins Atonale abgleiten. Aber nichts dient einem Selbstzweck sondern ist tief in der Geschichte verankert. Genau so, wie Zola seine Figuren geschaffen hat: Sie unterdrücken ihre Natur, ihr Temperament, das schlägt aus und wird gleich wieder begraben. Es ist eine Achterbahnfahrt."

Thérèse Raquin ist im besten Sinne eine große amerikanische Oper und zeitgenössische Musik. Sie klingt stellenweise wie ein Filmsoundtrack, manchmal erinnert sie an ein Musical. Doch auch in der Harmonie sind Elemente implementiert, die unterschwellig verstören. Die zunehmende Sprengung von Tonalität kündigt an, wie das Vertraute und Geordnete schließlich verdrängt wird. „Die Komposition ist durch Leitmotive geprägt, Arien, Ensembles und Duette bestimmen die große Struktur. Mit diesen bekannten formalen Elementen und der Tonalität zu Beginn holt Picker das Publikum ab und nimmt es dann musikalisch mit in einen Abgrund von Schuld und Reue", beschreibt es das Theater an der Wien im Programmheft. 

Inspiration bei Gregory Crewdson

Dieses Spiel mit Vertrautheit und Verstörung hat Thausing wiederum beim Bühnenbild für seine Inszenierung in der Wiener Kammeroper inspiriert. Gemeinsam mit dem Ausstatter Christoph Gehre stolperte er über den US-Fotokünstler Gregory Crewdson, der erst unlängst eine Ausstellung in der Wiener Albertina hatte. „Crewdson geht in die US-Suburbs und inszeniert dort aufwendig Szenen wie an einem Filmset. Nichts wird bei der Bildkomposition dem Zufall überlassen. Doch er inkludiert immer ein verstörendes Element, ähnlich wie etwa David Lynch. Seine Kunst wird als Hyperrealismus bezeichnet. Das bedeutet, dass die Fotos zwar sehr realistisch sind, aber dennoch: irgendetwas passt nicht. Es ist so perfekt, dass es überzeichnet ist, und das entspricht dann wieder der Opernkunst", beschreibt Thausing.

Es ist ein Abend, der unter die Haut gehen wird. Denn anders als Zola ist Picker kein Moralist, er löst die analytische Distanz zu seinen Protagonisten auf. Wenn man sich darauf einlässt, kann man so auch Sympathien für Mörder entwickeln, oder zumindest ein Verständnis für ihre Umstände. Und genau dadurch wird ihr Handeln noch mehr verstören.

Zur Person: „Thérèse Raquin"

von Tobias Picker in der Kammeroper, Fleischmarkt 2

Musikalische Leitung des Wiener Kammerorchesters: Jonathan Palmer Lakeland
Regie: Christian Thausing
Bühne: Christoph Gehre.

Mit Thérèse Raquin - Julia Mintzer
Camille Raquin - Andrew Morstein
Madame Raquin - Juliette Mars
Laurent - Timothy Connor
Suzanne - Miriam Kutrowatz
Olivier - Ivan Zinoviev
Monsieur Grivet - Hyunduk Kim.

Premiere am 16. Dezember.

Weitere Aufführungen am 18. Dezember sowie am 10., 13., 17. und 20. Jänner 2022. 

Zum Theater an der Wien

Christian Thausing ist ein österreichischer Regisseur. In der Wiener Kammeroper inszeniert er Tobias Pickers „Thérèse Raquin".

Foto: Rudolf Thausing

Zur Person: Christian Thausing

Der österreichische Regisseur studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Wien und Lyon. Schon in seiner Kindheit wurde er als Sohn einer Geigerin mit Arbeiten von Peter Konwitschny konfrontiert. In Wien kam er dann mit dem Theater von Christoph Schlingensief und Elfriede Jelinek in Kontakt, das ihn ebenso prägte, wie jenes von Brecht und Boal. Beruflich führte sein Weg vom Städtebundtheater Biel-Solothurn nach Graz, wo er als Spielleiter und Regieassistent die Gelegenheit hatte, mit Regisseuren wie Lorenzo Fioroni, Stefan Herheim, Marco Marelli oder Damiano Michieletto zusammen zu arbeiten. Besonders das Theaterverständnis von Stefan Herheim inspirierte ihn zum eigenen Weg als Regisseur.

Er inszeniert nicht nur in Opernhäusern, sondern weiß Geschichten in unterschiedlichsten Räumen geschickt in Szene zu setzen. Die wiederbelebte Operettentradition im Stadttheater Leoben trägt seit 2017 die Handschrift von Christian Thausing (Die Fledermaus 2017, Die lustige Witwe 2018, Die Csárdásfürstin 2019). An der Oper Graz inszenierte er im Juni 2017 auf der Murinsel Menottis Das Telephon, im Landhaushof 2018 Händels Apollo e Dafne und 2019 auf der Studiobühne die österreichische Erstaufführung von Stephen Olivers Mario und der Zauberer. Im Herbst 2020 folgte an der Oper Graz das Musical Anatevka.  Christian Thausing arbeitet mit dem Ausstatter Christoph Gehre, sowie mit Timo Dentler und Okarina Peters.

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