Tiefbegabt und hochsensibel
Dem einen fallen ständig Sachen aus dem Kopf, der andere kann das Haus nicht ohne Helm verlassen. Karin Drechsel inszeniert den Kinder-Kult-Krimi „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ als vitales Empowerment-Abenteuer.
„Zum Glück nicht pädagogisch!“ Damit meint Karin Drechsel den fehlenden didaktischen Impetus des vielfach ausgezeichneten deutschen Kinderbuchautors Andreas Steinhöfel, der erzieherische Maßnahmen in seinen geistreich-unterhaltsamen Geschichten strikt ablehnt. In dessen Stück „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ geht es um eine Freundschaft, die in einen Thriller mündet und am Ende das Miteinander feiert.
„Rico bezeichnet sich selbst als tiefbegabt, weil er Dinge vergisst, die er gestern noch gewusst hat, links und rechts nicht richtig unterscheiden kann und ausschließlich geradeaus zu gehen imstande ist. Aber er ist hochbegabt, was soziale Intelligenz angeht, ein empathischer, gefühlvoller Mensch“, erklärt die Regisseurin die eine Hauptfigur. „Und bei Oskar ist es genau umgekehrt. Er kann wie ein Lexikon buchstabengetreu die Dinge benennen, ist emotional aber eigentlich verwahrlost. Von seinen Ängsten gesteuert, geht er nie ohne Helm außer Haus. Von diesen beiden Polen her ergänzen sich die beiden und schließen Freundschaft miteinander. Was alle Figuren im Stück verbindet, ist, dass sie allein sind und sich als Außenseiter fühlen.“ Das sei auch der Grund, warum sie gerade jetzt auf das Stück gekommen sei. „Nach der langen Coronaphase fühlen sich viele junge Menschen isoliert, draußen, abseits, sie wissen nicht, wo sie eine Gemeinschaft finden sollen und wie sich so eine überhaupt bildet.“
Wer nun eine depressive Gemütslage befürchtet, irrt gewaltig. „Bei Andreas Steinhöfel leidet keiner unter seinen Beeinträchtigungen, sondern der Stoff hat Tempo und Frische. Es muss sich auch niemand ändern, um dazuzugehören, sondern hier treffen Menschen aufeinander, die einander ergänzen und sich nicht verbiegen müssen, um irgendwelche Ideale oder soziale Normen zu erfüllen.“
Die Geschichte entwickelt sich allmählich zum Thriller, bei dem der Discount-Entführer „Mister 2000“ – sein Name leitet sich davon ab, dass er lediglich zweitausend Euro Lösegeld für die von ihm gekidnappten Kids verlangt – als Einziger erzieherisch wirkt. „Er will den Eltern vermitteln, dass sie besser auf ihre Kinder aufpassen sollen.“ Da er Oskar in seine Gewalt bringt, muss Rico investigativ tätig werden.
The Black Rider
„Rico, Oskar und die Tieferschatten“ im Theater der Jugend ist die erste Regiearbeit von Karin Drechsel in Wien. Die Absolventin der renommierten Otto Falckenberg Schule in München studierte sowohl Schauspiel als auch Regie, trat danach auch auf, entschied sich aber rasch exklusiv für die Inszenierung. „Es gab nicht viele weibliche Vorbilder. Mein Ideal war Ariane Mnouchkine, auch an George Tabori habe ich mich ästhetisch orientiert.“
Ihre erste Inszenierung schuf sie am Modernen Theater in München, wo damals die meisten Premieren von Franz Xaver Kroetz stattfanden, danach entschied sie sich, als Assistentin zu Jürgen Flimm ans Thalia Theater nach Hamburg zu gehen.
Dort arbeitete sie eng mit Robert Wilson und Tom Waits zusammen, deren „Freischütz“-Adaption „The Black Rider: The Casting of the Magic Bullets“ 1990 am Thalia Theater uraufgeführt wurde. „Tom Waits ist ein sehr schüchterner, zurückhaltender Mensch“, erinnert sie sich an die befruchtende Kooperation, „der nur wenigen Leuten sein Vertrauen schenkt. Sein Arbeitsstil ist einladend und transparent. Das versuche ich auch in meiner Arbeit umzusetzen, schließlich bin ich von lauter Menschen umgeben, die auch Kompetenz und Fantasie haben.“
Angst als Befreiungsmotor
Mit Kinder- und Jugendtheater kam sie früh in Berührung, schon in ihren Anfängen inszenierte sie „Der Zauberer von Oz“ in Dortmund, vor zehn Jahren feierte sie mit Otfried Preußlers „Krabat“ am Schauspiel Frankfurt große Erfolge. „Aber in den 1990er-Jahren musste man als Frau aufpassen, nicht ausschließlich in die Kinder- und Jugendtheaterecke gedrängt zu werden“, resümiert Karin Drechsel. „Ich habe das gerne gemacht, aber ich wollte nicht ausschließlich dafür angefragt werden.“
Grundsätzlich sei ihr Zugang fortwährend ein politischer – „letzten Endes geht es mir immer um eine Form der Ermutigung“. Weshalb es auch keinen Unterschied mache, ob sie für Kinder oder Erwachsene inszeniert. „Ich versuche stets, das Publikum, dem ich gerade eine Geschichte erzähle, im Auge zu haben. Aufrichtige Zuwendung ist ein wichtiges Kriterium – auch bei harten Themen.“
Jugendliche sind bekanntlich am stärksten von Zukunftsängsten betroffen. Wie kann man sie mit theatralen Mitteln bestärken? „Ich denke, mit genau so einem Thema wie ‚Rico‘. Man muss ihnen vermitteln, dass es völlig in Ordnung ist, Angst zu haben, denn das haben wir alle. Angst kann auch ein Motor sein, der etwas Positives bewegt. Wenn ich nicht erstarre wie das Kaninchen vor der Schlange und sehe, dass ich nicht alleine bin, kann sich etwas entwickeln. Selbst die ‚Fridays for Future‘-Bewegung entstand aus Angst. Sie kann einen also auch in Bewegung setzen.“
Zur Person: Karin Drechsel
studierte Schauspiel und Regie an der Otto Falckenberg Schule in München, war Regieassistentin am Thalia Theater in Hamburg, wo sie u.a. mit Robert Wilson zusammenarbeitete, und ist seit 1991 als freischaffende Regisseurin tätig. Daneben unterrichtete sie Schauspiel und Regie am Mozarteum Salzburg, an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt sowie an der Folkwang Universität der Künste in Bochum. Sie lebt in Hamburg.