Musiktheatertage Wien: Welche Welt wollen wir?
Seit 2015 begeistern die Musiktheatertage mit neuen Klangwelten und ungewöhnlichen Spielorten. In diesem Jahr steht unter anderem eine Punk-Oper auf dem Programm. Eröffnet wird am 14. September mit „Chornobyldorf“.
Die Komplexität des Genres und des damit verbundenen Vorhabens steckt eigentlich schon im Namen: Musiktheater. Nicht nur, weil sich darin Musik, Theater und Szenenbild zu einem Abend verbinden, sondern auch weil Musiktheater nicht zuletzt auch Diskurstheater ist, wie Thomas Desi erläutert. Der Autor, Regisseur und Komponist ist auch Künstlerischer Leiter der Musiktheatertage Wien. Seit 2015 gibt es das Festival für zeitgenössisches Musiktheater bereits.
„Als Festival mit verschiedenen Spielstätten müssen wir uns nicht dem Anspruch beugen, riesengroße Säle zu füllen. Wir können völlig frisch an ein Publikum herangehen, das keine bestimmte Erwartungshaltung in Bezug auf Oper hat“, fügt Thomas Desi, der mit „Kunstschnee“ auch eines der heurigen Projekte inszeniert, hinzu. Das neue, bei den Musiktheatertagen gezeigte Musiktheater und die Spielpläne der drei großen Wiener Opernhäuser betrachtet er als zwei getrennte Familien. Georg Steker, Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des Festivals, sieht das ähnlich. „Das Zeitgenössische an den großen Opernhäusern fügt sich nach wie vor in die Passform der klassischen Oper und ihrer Voraussetzungen ein. Da gibt es einfach bestimmte Verabredungen, die nicht hinterfragt werden. Und natürlich auch den Anspruch, möglichst alle Sitzreihen zu füllen.“
„Welche Welt wollen wir?“
Bei den Musiktheatertagen wird hingegen sehr vieles hinterfragt. Nicht nur auf formaler Ebene, wo man unter Einbeziehung (technischer) Innovationen wie AR und VR konventionelle Verabredungen zwischen Text, Musik und Szene, aufbrechen möchte, sondern auch inhaltlich. „Welche Welt wollen wir?“ lautet die Leitfrage des Festivals. Diese wurde nicht über das Programm gestülpt, sondern ergab sich eher zufällig, erläutert Thomas Desi. „Ich bin in der Früh aufgewacht und da stand dieser Satz mehr oder weniger einfach vor mir. Er hat sich zunächst in Bezug auf mein eigenes Projekt, die „Kollapsologie“, geformt.“ Zwar muss dringend etwas getan werden, doch es sollte eher ein „Wollen“ sein. „Ich finde diese Bedrängnis, mich in einer bestimmten Weise verhalten zu müssen unangenehm. Das möchte ich mit dem Festival auch nicht vermitteln. Es gibt einen großen Unterschied zwischen wollen und müssen“, so Desi.
Für Georg Steker ist die Frage eine Verdichtung, die sich schön ergeben hat. Aus der sich für ihn außerdem ein gewisser Themenanspruch herausdestillieren lässt: ein Interesse, mit aktuellen Inhalten umzugehen. „Durch uns muss schon ein Themeninteresse durchströmen“, sagt Steker. „Ich sehe es durchaus als unsere Aufgabe, jene Dinge, von denen wir alle umgeben sind, aufzunehmen. Dadurch finden sich in unserem Programm viele aktuelle Themen, die nah an unserer aktuellen Lebensrealität dran sind.“ Als Miteinbeziehen einer „gesellschaftlichen Atmosphäre“ fasst Thomas Desi diese Herangehensweise zusammen.
Anspruchsvoll
Er meint damit „Themen, die uns in Form von Beunruhigungen, aber auch Beglückungen, in einer diffusen Weise beschäftigen“. Nach den Ansprüchen der Musiktheatertage gefragt, fällt Georg Steker noch ein weiterer ein: „Wir möchten der Ort für zeitgenössisches Musiktheater in Österreich sein. Und ich denke, dass wir auf einem guten Weg dahin sind.“ Thomas Desi erkennt im Begriff „Anspruch“ noch eine weitere für die Musiktheatertage geltende Facette: „Es sind durchaus anspruchsvolle Stücke, die wir zeigen. Weil sie inhaltlich komplex sind, experimentelle Settings haben und die Musik manchmal vielleicht nicht den eigenen Hörgewohnheiten entspricht.“
Eröffnet werden die diesjährigen Musiktheatertage mit dem Stück „Chornobyldorf“ – eine Koproduktion von Opera Aperta, Proto Produkciia und den Musiktheatertagen. Ausgehend von Zwentendorf und Chornobyl wird eine postapokalyptische Welt gezeigt, in der nach den Überresten der menschlichen Kultur gegraben wird. „Vereinfacht gesagt ist es eine Befragung dessen, was wir jetzt gerade mit unserer Welt machen“, so Steker. Die Wiener Premiere findet am 14. September im WUK statt.
Die vier Elemente
Etwas später, nämlich am 22. September, wird der erste Teil der vierteiligen „Kollapsologie“ mit dem Titel „Kunstschnee“ gezeigt. Das Konzept zum Vierteiler entstand, so Thomas Desi, aus der folgenden Überlegung heraus: „Die Idee war, dass wir gemeinsam alt werden – sowohl das Publikum als auch die Mitwirkenden. Ich würde mir wünschen, das Publikum, das bei dieser Produktion sehr viel stärker eingebunden ist, als man das vielleicht gewohnt ist, in den nächsten Jahren wiederzusehen. Kurz: Es wäre schön, eine Gruppe zu bilden, die vier Jahre lang gemeinsam durchs Leben geht.“ Mit Hölderlins unvollendetem Trauerspiel „Der Tod des Empedokles“ gab es noch einen weiteren Ausgangspunkt: „Darin kommt die Idee vor, dass die Welt aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft besteht. In jedem Jahr fokussieren wir uns also auf ein neues Element und starten heuer mit dem Element Wasser. Nur eben in gefrorener Form.“
Darüber hinaus wird es eine Fahrrad-Oper geben, ein Stück, das in einem alten Anatomiesaal stattfindet und mit „La Bohème Supergroup“ eine Punk-Opern-Performance, die sich mit der Rolle der Frau in der romantischen Oper beschäftigt. Ein weiteres Highlight ist das Stück „Mitra“ von Eva Reiter, Jorge León und dem Muziektheater Transparent & Ensemble Ictus. In einer Verbindung von Oper, Dokumentarfilm und Installation wird das Schicksal der iranischen Psychoanalytikerin Mitra Kadivar erzählt, die 2012 zu Unrecht in die Psychiatrie eingeliefert wurde, nachdem sie in Teheran eine Schule für Psychoanalyse aufbaute und ihr Zuhause in eine Anlaufstelle für Drogensüchtige umfunktionierte.