Was für ein Leben! Unvorstellbar! Und damit meine ich, auch mit dem größten Aufwand an Einbildungskraft kann ich mir dieses Leben nicht vorstellen – jedenfalls nicht, als wäre es das meine. Ich spreche vom Leben meiner Großmutter. Sie stammte aus Coburg, dieser reizenden Stadt in Franken mit ihren mittelalterlichen Gässchen, dem barocken Marktplatz und dem Schloss, das ein wenig an Buckingham Palace erinnert und erinnern sollte, schließlich war Albert von Sachsen-Coburg und Gotha der Gemahl der englischen Königin Victoria gewesen.

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Zwei Kriege haben im Leben meiner Großmutter stattgefunden, zwei Weltkriege. Der von 1914 bis 1918; bei Ausbruch war sie sechsundzwanzig Jahre alt, war also nicht erst im Aufbruch zu ihrem Leben begriffen wie eine junge Frau, hatte sich bereits eingerichtet, hatte ein bisschen etwas Eigenes, hatte einiges zu verlieren – und verlor viel. Musste mit dreißig noch einmal von vorn beginnen. Die folgenden einundzwanzig Jahre waren nicht gemütlich, waren nicht sicher, Hunger herrschte eine Zeit lang, und Ausblick auf eine gute Zukunft gab es nicht.

Dann der zweite Krieg. Waren im ersten die deutschen Städte verschont geblieben – nicht die Gliedmaßen der Soldaten, nicht die Seelen –, wurde nun am Ende so gut wie alles in Schutt und Asche gebombt. Dabei hatte meine Großmutter noch Glück: Coburg war verschont geblieben. „Die Engländer“, pflegte sie zu sagen, „bombardieren Verwandtschaft nicht.“ Ihre Angehörigen und Freunde in Nürnberg, Würzburg, Schweinfurt hatten dieses Glück nicht.

Die Nürnberger nannten ihre Stadt das „Adolf-Hitler-Gebirge“. Weil da nur noch ein Haufen Geröll und Schutt war. Ein bisschen Erspartes war meiner Großmutter geblieben und Mut – nicht der Mut der Verzweiflung oder sonst ein Mut, sondern der, wenn es sonst nichts mehr gibt außer ihm. Das Ersparte hat dann die Währungsreform weggefressen. Und dann wurde ihre Tochter, meine Mutter, krank und brauchte Hilfe. Also zog meine Großmutter nach Österreich, wohin es meine Mutter verschlagen hatte durch Heirat. „Ich bin eine Kriegsbeute“, sagte sie lachend. Sechzehn Jahre lang wohnte unsere Oma bei uns.

Sechzehn Jahre lang hegte und pflegte sie ihre beiden Koffer, einen großen und einen kleinen. Im kleinen bewahrte sie ihre Dokumente auf und den lieben Krimskrams – neben anderen Dingen einen Flachmann mit Kognak, alte Fotos, eine vergoldete Brosche, ein Leinensäckchen mit einem Dutzend Muscheln, einige zerbrochen, einen Waschbeutel, eine Blechdose, in die immer wieder Schokolade nachgefüllt wurde, Schweizer Schokolade, diverse Rosenkränze und eine Ausgabe von „Pinocchio“. Im großen Koffer war ihre Wäsche, duftend nach Lavendel. Natürlich wäre ihr ein Kleiderkasten zur Verfügung gestanden. Der blieb leer. Meine Großmutter weigerte sich, ihre Dinge irgendwo anders aufzubewahren als in ihren beiden Koffern.

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Sie wollte jederzeit bereit sein. Sie wollte nicht aufbrechen, nein, ganz bestimmt nicht, aber sie wollte bereit sein, wenn es wieder so weit sein sollte. Sie traute der Zeit nicht, sie vertraute dem Frieden nicht. Der Friede war die Ausnahme. Mein Vater, als ganz junger Mann selbst Teilnehmer des zweiten Krieges, predigte ihr von der neuen Zeit, die eine durch die drohende Anwesenheit der Atombombe sichere Zeit sei. Er entwarf vor ihr und seiner Familie die Vision einer nun wirklich guten Zukunft. Es geht aufwärts!

Mein Vater glaubte an die Vernunft, und die Vernunft ist oben, zu ihr hin geht es aufwärts. Und der Weg nach oben war mit Zeugen des Wohlstands markiert. Letztes Jahr hatten wir noch keinen Kühlschrank, heuer haben wir einen. Nächstes Jahr werden wir einen Staubsauger haben und dann eine Zentralheizung und dann irgendwann auch ein Auto und vielleicht, wer weiß, ein Telefon. Meine Großmutter konnte mein Vater nicht überzeugen. Ihre Sachen blieben in den zwei Koffern.

Einmal im Jahr lüftete sie aus. Da wurde die Wäsche gewaschen, auch wenn sie noch ganz frisch war, sie wurde in die Sonne gehängt und gebügelt und mit Eau de Cologne besprüht. Der Krimskrams wurde auf dem Esstisch ausgelegt und abgestaubt und abgewischt, obwohl kein Stäubchen daran haftete.

Meine Großmutter hielt Inventur. Merkwürdig ist, dass zu den Dingen keine neuen hinzukamen. Alles, was sie besaß, stammte aus der untergegangenen Zeit. Sie hatte Heimweh – ein vertikales Heimweh, so nenne ich es, Heimweh nicht nach Coburg, dorthin fuhren wir jedes Jahr zu Ostern, es war Heimweh nach der verlorenen Zeit, nach der verlorenen Welt, Heimweh nach dem Coburg vor den beiden Kriegen. Dieses Weh konnte von niemandem beruhigt und durch nichts gelindert werden.

Ich liebte die Koffer meiner Großmutter. Wenn sie „Inventur“ hielt, legte ich mich in den großen. Noch passte ich hinein, nächstes Jahr, wenn der Staubsauger in unserem Haushalt angekommen sein wird, würde ich nicht mehr hineinpassen. Ich klemmte zwischen die beiden Hälften zwei Paar zu Knäueln gestülpte Strümpfe und lag zusammengerollt auf dem duftenden Kofferboden und erträumte mir eine abenteuerliche Reise. So einer wollte ich sein: einer, der aus dem Koffer lebt.

Einer auf Reisen. Einer, der keines Nestes bedürftig war. Einer, der immer all das Seine bei sich hat. Vergeblich wünschte ich mir zu Weihnachten und zu meinen Geburtstagen einen Koffer.„Warum willst du einen Koffer?“, wurde ich gefragt. Damit ich ein Leben führen kann wie meine liebe Oma, hätte ich antworten können. Aber ich wusste ja selber, dass von diesem Leben zwei Weltkriege abgezogen werden müssten, um daraus eines zu machen, wie ich es mir in meinen Abenteuerfantasien vorstellte und wünschte. – Ich lag im Koffer und schlief ein. Irgendwann setzte sich meine Großmutter neben mich und klopfte an den Kofferdeckel, als ob sie eintreten wollte. Ich erwachte und ließ mich mit Schokobröcklein aus meinem Paradies locken.

Was ist Krieg? Diese Frage ist doch nur dann interessant und weckt nur dann interessante Diskussionen, wenn er weit zurückliegt oder weit weg stattfindet. Wenn er da ist, gibt es darauf nur eine

Antwort: Krieg ist das Gegenteil aller Wünsche.

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