Ein Kaiser voller Gnaden
Die letzten Porträtfotos von ihm sind sieben Jahre alt. Mit seiner Frau spricht er italienisch, wenn die Kinder nichts verstehen sollen. Und nach Wien kommt er mit vielen Golfschlägern. Matthew Polenzani ist ein wortgewandter, warmherziger, witziger Mann. Ideal für die Titelrolle in „La clemenza di Tito“.
Fernmündliches Bildgespräch. Anders wäre ein Interview mit dem vielbeschäftigten Tenor aus New York, der sich zur Zeit des Dialogs gerade in Hamburg aufhält, auch nicht möglich gewesen. Erst wenige Stunden davor hat er das dazugehörige Fotoshooting absolviert. Und gut überstanden. „Ich habe Freunde, die jedes Jahr neue Bilder anfertigen lassen und dafür eine möglichst große Auswahl schätzen. In diese Kategorie falle ich nicht, meine letzten Porträtfotos sind sieben Jahre alt“, umschifft er charmant die Frage, wie es ihm denn vor der Kamera gefallen habe. „Aber das Wetter war schön, und ich denke, es werden schon ein paar brauchbare dabei sein“, hofft er zu Recht, wie das Ergebnis zeigt.
Sein italienischer Nachname stammt vom Großvater väterlicherseits, der schon als Kind in die USA gekommen ist, mit dem er aber nie italienisch gesprochen habe. „Die Zeiten waren andere. Heute versucht man als Immigrant, seine Muttersprache zu bewahren, damals wollte man sich möglichst schnell assimilieren, um Teil der Gesellschaft zu werden.“
Mozart war ein enger Wegbegleiter meiner Karriere.
Matthew Polenzani
Trotzdem beherrscht er – nicht zuletzt wegen seines Repertoires – neben Englisch, Französisch und ein wenig Deutsch auch Italienisch und ist mit einer Frau verheiratet, deren Eltern ebenfalls aus Italien stammen. „Leider spricht sie aber nur neapolitanisch“, meint er lachend, „wenn die Kinder nicht mitbekommen sollen, was wir reden, sprechen wir italienisch miteinander.“ Was zunehmend schwierig wird, da vor allem der 16-jährige älteste Sohn mittlerweile aufgrund schulischer Kenntnisse (zu) viel versteht.
Im September wird Mr. Polenzani an der Wiener Staatsoper die Titelrolle in „La clemenza di Tito“ singen. „Mozart war ein enger Wegbegleiter meiner Karriere, und wann immer eine entsprechende Anfrage kommt, versuche ich alles, um diese möglich zu machen“, erklärt er. Denn je mehr er, der lyrische Tenor mit Belcanto-Qualitäten, in ein dramatischeres Fach käme, desto mehr wollten ihn die Zuschauer auch in solchen Rollen sehen. Und umso mehr müsse er aufpassen, sich sein lyrisches Repertoire zu erhalten.
„Idomeneo“ und „Die Zauberflöte“ durfte er heuer im Sommer bereits geben, mit „La clemenza di Tito“ kommt nun also der dritte Mozart en suite auf ihn zu: „Ein Glückszustand.“
Lebenserfahrung erwünscht
Die Rolle des Tito hat er erst drei- oder viermal gesungen. „Ich wollte damit wirklich warten, nicht, weil die vokalen Anforderungen so groß wären, sondern weil ich finde, dass man dafür Lebenserfahrung benötigt. Ich wollte mehr charakterliches Gewicht in diesen Mann legen, als man dies mit 30 Jahren könnte. Er kämpft mit etwas immens Schwierigem, nämlich dem Betrug seines besten Freundes, und ich wollte das Ausmaß seiner Qualen spürbar machen.“ Vor sieben Jahren fühlte er sich schließlich reif dafür und gab sein Tito-Debüt.
„Es geht nicht nur darum, was dieser Kaiser mit Sesto, der ihn so schändlich hintergangen hat, anstellt. Er will ihm nicht nur vergeben, sondern auch sein Volk, das Sestos Tod fordert, auf eine andere moralische Stufe heben. Er ist generell ein großzügiger Mann mit einem aufrichtigen Herzen, wofür ich diese interessante Figur liebe.“ Es passiere nicht oft, dass man einen solch vielschichtigen Charakter in einer Oper spielen dürfe. „Und die Musik ist auch sehr gut …“
An Wien, wo Matthew Polenzani als Tamino, Don Ottavio oder Nemorino zu erleben war, hat er durchwegs positive Erinnerungen. 2009 stand er neben Edita Gruberová, die damit ihren „Lucia“-Abschied gab, als Edgardo auf der Staatsopernbühne. „Sie war natürlich aus gutem Grund die Königin von Wien, der Schlussapplaus dauerte 50 Minuten. Aber sie war sehr zuvorkommend und kam sogar zu mehreren Proben, obwohl sie das nach 30 Jahren ‚Lucia di Lammermoor‘ nicht nötig gehabt hätte.“
Nach Wien will er übrigens sein umfangreiches Golf-Equipment mitbringen. „Ich weiß, dass es in und um Wien ein paar gute Plätze gibt. Für mich ist Golfen der ideale Ausgleich zu den Anstrengungen meines Berufs.“
Zur Person: Matthew Polenzani
Der lyrische US-Tenor singt an allen großen Opernhäusern der Welt und machte sich u. a. als Graf Almaviva, Nemorino, Tamino, Rodolfo, Idomeneo und Don Ottavio, aber auch als Don José, Hoffmann, Don Carlos und Herzog von Mantua international einen Namen. Er agiert als Konzertsänger mit den renommiertesten Orchestern und Dirigenten und wird als Liedinterpret vom Pianisten Julius Drake begleitet.
Talent und Arbeit
Einen künstlerischen Background hat der in Evanston, Illinois, geborene Sänger, der beinahe Lehrer oder Chorleiter geworden wäre, nicht. „Mein Großvater war zwar ein bekannter ‚Barbershop Singer‘ und hat als Hobbyhistoriker herausgefunden, dass ich angeblich ein Cousin sechsten Grades von Renata Tebaldi bin (lacht), und meine Schwester ist eine durchaus erfolgreiche Folkmusikerin, aber in der ersten Oper, die ich je sah, habe ich auch mitgespielt.“
Heute gilt er längst als einer der talentiertesten lyrischen Tenöre seiner Generation. Wie viel aber ist wirklich Begabung und wie viel harte Arbeit? „Das ist eine schwierige Frage, die ich kaum beantworten kann. Man muss etwas haben, das wachsen kann, die Zahl der Menschen, die mit 22, 23 Jahren komplett geformt sind, bereit, auf der ganzen Welt alles zu singen, ist sehr klein. Ich verbringe viel Zeit mit Üben, Gesangsstunden und Coachings, wenn ich es also beziffern müsste, würde ich sagen 30 Prozent sind Talent und 70 Prozent Arbeit. Wenn du nicht verstehst, dass du dein Talent entwickeln, pflegen und wachsen lassen musst, wirst du es nie schaffen. Wenn du nicht lernst, wie man phrasiert, schauspielt oder eine Sprache richtig klingen lässt – und das ist Arbeit –, kommst du nicht weit.“
Ambitionierte Perspektiven
Auf seine Zukunftspläne angesprochen, kommt Matthew Polenzani kaum zum Luftholen. Gerade hat er seinen ersten „Lohengrin“ zugesagt, unmittelbar nach „La clemenza di Tito“ wird er in Neapel den Orombello in Vincenzo Bellinis nicht allzu oft gespielter Belcanto-Oper „Beatrice di Tenda“ verkörpern, danach in seiner Heimatstadt New York eine Serie von Verdis „Messa da Requiem“ und den Rodolfo in Puccinis „La Bohème“ singen. „Und danach komme ich zurück nach Hamburg, um als Florestan in Beethovens ‚Fidelio‘ zu debütieren.“ Ein erster diesbezüglicher Anlauf war der Pandemie zum Opfer gefallen. „Darauf freue ich mich, denn ich bin von dieser Musik begeistert. Viele meinen ja, ‚Fidelio‘ sei Wagner light, aber für mich liegt Beethoven viel näher an Mozart, in dessen Zeit er auch komponiert hat.“
Da er so viel Zeit im Ausland verbringt, ist es ihm ein Anliegen, auch immer wieder in New York zu gastieren. „Meine Familie ist mir wichtig, wenn ich zu Hause bin, versuche ich, so viele Baseball- und Basketballmatches, Konzerte oder Schwimmwettbewerbe meiner Kinder zu besuchen wie nur möglich. Ich kann nicht nur Sänger sein, ich brauche mehr als das. Ich habe in meinem Leben junge aufstrebende Sänger getroffen, die noch nie von Franco Corelli, Giuseppe Di Stefano, Aureliano Pertile oder Ferruccio Tagliavini gehört haben – und die Liste ließe sich fortsetzen. Mir ist bewusst, dass auch ich ab einem gewissen Punkt in nicht allzu ferner Zukunft, wie wir alle, vergessen sein werde. Das ist okay für mich, weil ich eine liebevolle Beziehung zu meiner Frau und meinen Kindern aufgebaut und enge Freunde habe. Wenn ich also eines Tages aus der Oper komme und niemand mehr wartet, um ein Autogramm von mir zu bekommen, wird es noch immer Menschen geben, die mich gernhaben und brauchen.“
Zur Person: Das Stück: La clemenza di Tito
Der neue Kaiser Tito stellt Großmut in den Mittelpunkt seines Tuns. Als sich sein bester Freund Sesto zu einem Mordanschlag an ihm überreden lässt – der zwar fehlschlägt, aber die Stadt in Brand setzt –, weigert sich Tito, das vom Senat beschlossene Todesurteil zu unterschreiben. Er will nicht der Rache das letzte Wort lassen und schenkt den Attentätern ein Leben in Freiheit. Das Volk, das erst die Hinrichtung der Verschwörer gefordert hatte, preist nun das Glück des historischen Augenblicks.