Anmut trifft Juckpulver
Singspiel. Komödie. Drama. Martin Niedermair ist ein Mann für alle Fälle. Er nimmt sich selbst nicht wichtig, seinen Beruf jedoch sehr ernst: von Bühnenpartnern gerühmt, von Kritikern geschätzt, vom Publikum gefeiert.
Wenn Kollegen Lobeshymnen singen, sollte man auch am Theater vorsichtig sein. Denn nicht selten steckt hinter dem Gesäusel im Subtext Gezischel, und so manche öffentlichkeitswirksame Umarmung endete backstage schon tödlich. Nicht so bei diesem seltenen Exemplar einer Doppelbegabung, die singstimmlich ebenso zu überzeugen weiß wie darstellerisch.
Fragt man zum Beispiel Alexander Pschill, der gerade in „Der große Diktator“ in den Kammerspielen mit Martin Niedermair auf der Bühne steht, ist er kaum zu bremsen: „Martin ist einzigartig. Sowohl Trend als auch Tradition an heimischen Theatern setzen oft und bedauerlicherweise eine strikte Trennung zwischen subtiler Eleganz und schriller Komik voraus. Er jedoch setzt sich in jeder Rolle über diese Einschränkungen und Etikettierungsbedürfnisse hinweg und besitzt die seltene Fähigkeit, uns mit einer Mischung aus Anmut und Juckpulver gleichzeitig zum Staunen und zum Bauchweh-Lachen zu bringen. Als hätten Peter Sellers, David Bowie und Roger Moore beschlossen, ihre DNA-Stränge miteinander zu verknoten.“
Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt, aber innerlich sind wir stehen geblieben
Charlie Chaplins Meisterwerk „Der große Diktator“ hat Premiere in den Kammerspielen – mit Alexander Pschill und Daniela Golpashin in den Hauptrollen. Wir haben die beiden Publikumslieblinge bei den Proben besucht. Weiterlesen...
Der so Gehuldigte ist mit Superlativen in der Selbstreflexion hingegen sparsam und sieht sein vielseitiges Talent realitätsnah pragmatisch. „Mir hat es sicher etwas gebracht, dass ich breiter aufgestellt bin, und ich möchte weder das eine noch das andere missen“, kommentiert er den Fakt, dass er Schauspieler und Sänger ist. „Bei uns hat dies aber weniger Tradition als etwa im angelsächsischen Raum, was manchen die Einordnung und die Rezeption erschwert. Man sitzt mitunter zwischen den Genres, und das ist nicht immer einfach, aber umso befriedigender.“ Kultivierter hätte man es kaum ausdrücken können.
Unvorhergesehenes Geschehen
So lautet eine gängige Definition für Zufall. Der spielte in der Berufswahl von Martin Niedermair eine zentrale Rolle. Denn für ihn war die Bühne weder zwingend noch ein lang gehegter Traum.
Der gebürtige Steyrer absolvierte eine Ausbildung zum Marketingassistenten und Grafiker, verspürte aber bald den Drang, sich anderweitig zu verwirklichen. „Nur worin, wusste ich nicht. Ich war in meiner Suche ein wenig verloren und lernte damals eine junge Frau kennen, die am Konservatorium Schauspiel studierte. Sie hat mich animiert, die Aufnahmeprüfung zu machen, und man hat mich genommen. Damit war meine Zukunft besiegelt, das war es, und das blieb es.“ Zum Glück für Theaterfans, die ihn als Ottone in „Poppea“ am Schauspielhaus, in der Rolle des Rolf Gruber in „Sound of Music“ an der Volksoper oder zwei Jahre lang im Kabarett Simpl erleben konnten.
Für Barrie Koskys Inszenierung von „Das verräterische Herz“, das in der englischen Fassung „The Tell-Tale Heart“ auch in Melbourne und Sydney gastierte, wurde Martin Niedermair jeweils in der Kategorie „Best Male Actor“ sowohl für den Green Room Award als auch für den Helpmann Award nominiert.
Matthias Franz Stein und Martin Niedermair über „Was ihr wollt"
Die Protagonisten von „Was ihr wollt“ aus dem Ensemble des Theaters in der Josefstadt haben uns erzählt, was sie eigentlich wollen – im Leben, in der Liebe und im Theater. Weiterlesen...
Seit 2008 ist er im Theater in der Josefstadt zu Hause. „Ich erlebe es als lebendiges und wandlungsfähiges Haus mit mutigem Spielplan, das mir die Möglichkeit bietet, mich in unterschiedlichen Bereichen auszuprobieren. Ich hätte nie damit gerechnet, einmal Lady Olivia in ‚Was ihr wollt‘ zu spielen. Das stand nicht auf meiner To-do-Liste“, lacht er augenzwinkernd. Auf die Frage, ob er denn in der Josefstadt in Pension gehen wolle, schwillt das Lachen ostentativ an. „Schauen wir einmal, was die nächsten Jahre bringen“, lautet die beinahe schon wienerische Antwort, „vor 25 Jahren habe ich mir mein Leben komplett anders vorgestellt. Man sollte ohnehin nie Pläne machen, weil sie meist vom eigenen Leben durchkreuzt werden.“
Physische Präsenz
Aktuell spielt Martin Niedermair vier Rollen in „Der große Diktator“, das vom Publikum gestürmt wird. „Das Stück ist erfolgreich, weil es so universell ist. Und auch schrecklich, denn man könnte annehmen, dass es vor zwei Wochen geschrieben worden wäre. Die Aktualität ist so grausam, dass es einen manchmal beinahe umwirft, wenn man da oben steht. Es kann doch nicht sein, dass sich nichts geändert hat!“ Ein Gefühl, das ihn wohl auch in seiner nächsten Produktion, Franz Wittenbrinks Adaption des Fallada-Romans „Jeder stirbt für sich allein“, wieder einholen dürfte.
Zudem ist er gegenwärtig in „Was ihr wollt“, „Das perfekte Geheimnis“ und „Engel der Dämmerung“ ein Bühnenereignis. Wie schafft man ein solches Pensum? „Auch wenn es abgedroschen klingt, hat es schon etwas mit Disziplin zu tun. Ich schlage mir nicht die Nächte um die Ohren, wenn ich am nächsten Tag Probe habe. Man muss es sportlich sehen und als Herausforderung begreifen, nicht als Belastung.“ Fitnesstraining, Laufen und Radfahren schaden in seinem Fall ebenfalls nicht.
Das letzte Wort hat Sona MacDonald, „seine“ Marlene Dietrich. „Mit Martin habe ich eine lange und innige Verbundenheit. Auf ihn ist in jeder Hinsicht vollkommener Verlass. Ein beseelter, feiner Mensch mit einer unendlichen Vielseitigkeit. Was für ein guter Schauspieler und Sänger!“
Wow. Da wird man selbst als Nicht-Adressat der kollegialen Preisung ein wenig rot.
Zur Person: Martin Niedermair