Es war am 12. April 1945, also in den letzten Kriegstagen, als die Bomben das Burgtheater in Trümmer legten. Dabei hatte das damals 17-jährige Mädchen doch Stoßgebete verschickt, „dieses magische Land am Ring“ möge verschont bleiben. Bei den Aufräumarbeiten half die heute 92-jährige Bibi Zeller mit: „Ich packte an bei den Ziegeln. Und ich hatte das Gefühl einer nahezu körperlichen Verbundenheit mit diesem Theater. Dort wollte ich hin, dort konnte einem nichts passieren, dort schien man geschützt.“

Anzeige
Anzeige

Ein Saal unter Strom

An diese Passage unseres Interviews musste ich denken, als ich knapp vor dem Lockdown mit entsprechender Wehmut die Premiere von „Automatenbüffet“ im Akademietheater besuchte. Die Spiellibido des Ensembles setzte den ganzen Saal unter Strom, man fühlte sich tatsächlich wie in einem Schutzraum, der den Rest der Welt völlig auszublenden imstande war. Ich dachte mir: Was für ein anachronistischer Luxus! Menschen stellen sich auf Bretter und simulieren erfundenes Leben. Vor einer überschaubaren Schar Leutchen. Ohne Weltvertriebsrechte und Merchandising-Stände. Der Staat und die Gesellschaft haben sich darauf geeinigt, sich diesen analogen Luxus zwecks geistiger Animation der Bürger zu leisten.

Kulturelle Unterzuckerung

Vor ein paar tausend Jahren war es nicht viel anders. Da hat sich eine altgriechische Xenia schnittige Sandalen angeschnallt und die Locken mit getrockneten Schweineschwänzchen aufgefescht, um sich abends in der Arena den letzten Schwank von Aristophanes reinzuziehen. Die Energiewolke, die sich über einen Zuschauerraum legt, kann kein digitales Schauvergnügen auch nur annähernd herstellen. Man wusste es ohnehin, aber so richtig schmerzhaft bewusst wurde es einem erst in diesen Phasen kultureller Unterzuckerung.

Die Intimität und Spontaneität eines Bühnenabends lassen sich auf keinen noch so großen Bildschirm übertragen. Wir sind nun einmal analoge Wesen."

Angelika Hager

Anfangs fand man es ja wirklich rührend, wenn die „berufsmäßigen Gefühlsmenschen“ (Max Reinhardts Definition des Schauspielers) daheim online gingen und mit Gedankenballaden und Rezitationen Präsenzdienst am Publikum leisteten. Doch am Ende blieb nur die Sehnsucht nach direkter Interaktion. Die Intimität und Spontaneität eines Bühnenabends lassen sich auf keinen noch so großen Bildschirm übertragen. Wir sind nun einmal analoge Wesen.

Anzeige
Anzeige

„Es sind die möglichen Irritationen, die das Spielen so richtig geil machen, das sind die wirklich kostbaren Momente“, erzählt Philipp Hochmair, der bei seinen One-Man-Shows wie „Jedermann Reloaded“ oder „Werther!“ von Stromausfällen bis zu Ohnmachtsanfällen im Publikum einiges miterleben durfte. Einmal schnitt er sich im Spielrausch auf der Bühne mit dem Messer, „dass ich blutete wie Sau, und eine Frau kam auf die Bühne, um mich zu verbinden“.

In seinen Memoiren „Das Wunder des Überlebens“ beschreibt Schriftsteller und Theatermacher Ernst Lothar das Glücksgefühl, das ihn bei Theaterbesuchen erfasste: „Eine jähe Vergessenheit des Wirklichen kam über mich … und eine willige Bereitschaft, dem Wirklichen zu entlaufen.“

Angelika Hager: Theater als geistige Bewässerungsanlage

Gab es in den letzten Jahren einen größeren Bedarf an solchen Fluchtwegen als jetzt? Möglicherweise bin ich naiv, aber ich möchte Claus Peymann nicht recht geben, der am Ende unseres letzten Inter­views ungewohnt melancholisch fest­stellte: „Vielleicht sind wir ja tatsächlich eine aus­sterbende Gattung, und das Theater schläft den Dornröschenschlaf. Vielleicht entsteht gerade eine neue, digitale Kunstform, und wir analog Sozialisierten kriegen es gar nicht mit.“ Vielleicht kapieren aber auch inzwischen die digital völlig Ver­peilten endlich, dass das Theater einer geistigen Bewässerungsanlage gleichkommt. Man muss nur hingehen.

Zur Person: Angelika Hager

Alter: 57 Jahre
Wohnort: Wien
Sie leitet das Gesell­schafts­ressort beim Nachrichtenmagazin „profil“. Und sie ist die Frau ­hinter dem Kolumnen-­Pseudo­nym Polly Adler im „Kurier“. Hager gestaltet ­gestaltet das Theaterfestival Schwimmender Salon im Thermalbad Bad Vöslau.

Weiterlesen:

Angelika Hager über Claus Peymann, der „letzte Tyrannus Rex der Theaterregie“

Theatertipp: Otto Schenk im Theater in der Josefstadt: „Der Kirschgarten“