Germanist und Musiker. Was für ein Segen. Gottfried von Einems Oper „Der Prozess“ nach Franz Kafkas Roman bedient Walter Kobéras Doppelbegabung vorzüglich: „Natürlich hat mich das Literarische interessiert, das Skurrile, Unwirkliche, Bedrohliche, mit dem die Hauptfigur Josef K. konfrontiert wird. Weniger seine Isolation als vielmehr jenes unbekannte Herrschaftssystem, dem er schutzlos ausgeliefert ist.

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Die Ohnmacht gegenüber einer Behörde hat etwas sehr Modernes und ist wahrscheinlich auch einer typisch österreichischen Verhaltensweise geschuldet. Man hat lange Zeit nicht widersprochen. Zum Glück leben wir in einer freien Gesellschaft, aber immer wieder auch mit dem Gefühl, einer imaginären Autorität untertan zu sein."

Das Schicksal von Josef K., der im Roman und in der Oper verhaftet wird, ohne zu erfahren, welchen Verbrechens man ihn beschuldigt, um am Ende hingerichtet zu werden, erlaubt tiefe Einblicke in die Funktionsmechanismen totalitärer Regime. Das mache „Der Prozess“ außerordentlich zeitgemäß, so Walter Kobéra.

„Wir dürfen uns fragen, wo wir heute stehen und wie unsere Welt ausschaut. Warum Äußerungen, die noch vor zehn Jahren ein Tabu gewesen wären, jetzt, so überhaupt wahrgenommen, mit einem Achselzucken goutiert werden. Theater kann nicht alles verändern, aber vieles bewusst machen – wenn wir hinhören.“

Reingeschaut und weggelegt

Walter Kobéra wird „Der Prozess“ in der Kammeroper musikalisch leiten. „Nachdem ich 2010 Gottfried von Einems Oper ‚Dantons Tod‘ dirigiert hatte, wurde ich von seinem Sohn Caspar Einem auf ‚Der Prozess‘ angesprochen. Ich habe mir die Partitur gekauft und sie mit dem verglichen, wie ich mir eine musikalische Übertragung des Kafka-Romans vorgestellt hätte. Das war stark davon abweichend, also habe ich sie wieder weggelegt.“

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Der Komponist habe sich formal sehr traditionell orientiert und eine Nummernoper geschaffen. Erst später sei ihm bewusst geworden, dass man etwa die Jazz-Elemente als bewussten Kontrapunkt zum Text interpretieren könne.

„Dadurch werden ganz andere Emotionen und Dynamiken frei. Und der kammermusikalische Fokus von Tobias Lepperts Fassung, die wir verwenden, ergibt noch einmal eine unmittelbarere, pointiertere, intensivere, härtere Ausrichtung. Das unterstreicht zusätzlich den klaustrophobischen Aspekt und passt sehr gut zum intimen Rahmen der Kammeroper. Wir können die Innenwahrnehmung von Josef K. reduziert erleben und vor allem hören.“

Walter Kobera
„Ehe ich das Publikum gewinnen kann, muss ich zunächst einmal alle daran beteiligten Künstler verführen.“ Walter Kobéra, Dirigent

Foto: David Payr

Josef K. im Jahr 2024

Die Inszenierung übernimmt Hausherr Stefan Herheim. Was zeichnet „Der Prozess“ literarisch und musikalisch für ihn aus? „Die Opern-Adaption eines Romans dieser Bedeutung und dieses Umfangs setzt natürlich literarische Abstriche voraus. Boris Blacher, der selbst Komponist war, richtete mit seinem Libretto den Fokus auf ‚operntaugliche‘ Situationen, die Gottfried von Einems expressivem, spätromantischem Stil entgegenkamen. Kafkas Prosa ist subtil und unterstreicht oft Josef K.s Verwunderung über die Perfidie, welche ihm widerfährt. In der Oper wird diese signalhaft mit ruppigen Rhythmen ironisiert. Hier weicht dem Staunen die lautstarke Empörung – ein cholerischer Charakterzug, der Josef K. keineswegs sympathischer macht.“

Welche Aspekte dieses vielschichtigen Werks interessieren den Regisseur besonders? „Interessant ist, dass Josef K. keineswegs mit einer Zivilcourage ausgestattet ist, die ihn zu einem potenziellen Systemsprenger macht. Sich selbst betrachtet er als gehorsamen Bürger, als Gutmenschen, dessen Verhaftung nur auf einem Missverständnis beruhen kann. Trotz seines innerlichen Widerstandes geht er recht spießig vor und resigniert zunehmend.

Darin ähnelt er vielen Menschen, die überfordert sind mit der Menge an Informationen, die uns heute zur Verfügung stehen, die aber kein greifbares Wertesystem erkennen lassen, das dem Gemeinwohl dient und den Rechtssinn fördert. Sowohl Verschwörungstheoretiker als auch Populisten und Rechtsradikale nutzen diese Überforderung, produzieren vereinfachte Bilder einer komplexen Wirklichkeit und instrumentalisieren genau diese Angst. Das erzeugt ein lebensfeindliches Klima, in dem die Kunst der Verdrängung immer mehr um sich greift.“

Stefan Herheim
Stefan Herheim inszeniert „Der Prozess“. Er erkennt in der zunehmenden Resignation des Josef K. Ähnlichkeiten zur heutigen Gesellschaft, in der die Überforderung der Menschen – und daraus resultierende Ängste – von Populisten und Rechtsradikalen instrumentalisiert wird.

Foto: Hilde van Mas

Verführer auf schwierigem Terrain

Die Diskurswürdigkeit eines Stoffs ist auch für Walter Kobéra ein wichtiges Kriterium, um sich überhaupt näher mit einem Werk auseinandersetzen zu wollen. Als Leiter der Neuen Oper Wien gilt er als Spezialist für Uraufführungen und die Wiederentdeckung verschütt gegangener, aber relevanter Werke. „An sogenannter Neuer Musik interessiert mich vor allem, dass sie eine Ausdrucksweise des Hier und Jetzt darstellt. Aktuelle Musik ist auch ein Zeitzeugnis. Sie bezeugt, wie wir uns heute artikulieren, denn so, wie sich Sprache entwickelt, tut dies auch die Musik.“

Wien sei diesbezüglich noch immer ein schwieriges Pflaster. Wobei ihm viele Publikumsreaktionen zeigten, dass es sich doch lohne.„Ich mache diese Arbeit aber nicht allein. Ehe ich das Publikum gewinnen kann, muss ich zuerst einmal alle daran beteiligten Künstler verführen. Ich sage als Dirigent immer: ‚Das Staberl klingt nicht.‘ Musiker müssen davon überzeugt sein, meinen Auffassungen folgen zu wollen. Und auch ablehnende Reaktionen ergeben Sinn, weil dadurch Diskussionen entstehen.“

Solche sind hoffentlich auch bei Oscar Strasnoys 2010 uraufgeführter Tragödie „Cachafaz“ zu erwarten, der sich Walter Kobéra 2025 widmen wird. „Das Stück spielt im mafiösen Milieu von Monte- video, in dem ein Homosexueller und ein Transvestit als Paar von Buenos Aires träumen.“ Klingt nach großer Oper.

Zur Person: Walter Kobéra

studierte Germanistik und Violine und ist einer der führenden Dirigenten des zeitgenössischen Musiktheaters. Seit 1993 leitet er als Intendant die Neue Oper Wien. In der Kammeroper dirigierte er zuletzt Ottmar Gersters „Enoch Arden“ und Péter Eötvös’ „Der goldene Drache“. Er ist Lehrbeauftragter für Moderne Musik an der mdw und Jurymitglied internationaler Gesangswettbewerbe.

Hier zu den Spielterminen von Der Prozess in der Kammeroper!