Die Liebesinsel als Schlachtfeld
Dass die frühe Oper mächtig Frauenpower besaß, demonstriert die Wiener Kammeroper zum Intendanz-Start von Stefan Herheim. Ilaria Lanzino setzt Francesca Caccinis „La liberazione“ in Szene, in der sich zwei Frauen um einen Mann matchen.
„La Cecchina“, also Singvogel, lautetet der Spitzname Francesca Caccinis (1587–1640). Ihr Vater, Giulio, gilt als Mitbegründer der Monodie, des Einzelgesangs mit Instrumentalbegleitung. Die singenden Frauen der Familie machten am Hof der Medici als „Donne di Caccini“ Furore. Francesca, Komponistin, Meisterin auf Cembalo, Laute, Gitarre, war dort höchstbezahlte Musikerpersönlichkeit. Die Habsburgerin Maria Maddalena d’Austria, durch Heirat Großherzogin von Toskana, gab anlässlich des Besuchs des polnischen Kronprinzen Władysław 1625 den Auftrag zu „La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina“, die als erste Oper einer Komponistin gilt.
Die Handlung, Ariostos „Orlando furioso“ entnommen, spielt auf der Zauberinsel der Alcina, wo sich Ruggiero der Liebe und Muße hingibt. Da naht die „gute“ Zauberin Melissa, um ihn aus dem Bann Alcinas zu befreien. Melissas Sieg wird mit einem Ballett zu Pferd gefeiert. Womit sich die erste Frage an Regisseurin Ilaria Lanzino stellt.
Wie bekommt man ein Rossballett in die Kammeroper?
Also wir ziehen zum Stephansdom, und dort warten die Pferde auf uns … Nein! Es handelt sich hier um eine höfische Tradition, die wir nicht umsetzen. Das Ballett ist für uns heute dramaturgisch nicht mehr relevant. Mit unserem Dirigenten Clemens Flick haben wir eine Fassung erstellt, die zusätzliche polyphone Madrigale aus der Zeit einbringt. Das ergibt eine Reibung mit Caccinis Monodie und ergänzt den Abend durch eine neue Qualität. Auch der Prolog wurde gestrichen.
Also ein rein höfisches Repräsentationsstück? Was war sein Zweck?
Es ist ein sehr politisches Werk. Maria Maddalena wollte dem Prinzen aus Polen huldigen, weil sie ihre Tochter mit ihm verheiraten und quasi eine katholische Liga kreieren wollte. Sie selbst ist Melissa. Alcina steht für die Türken, gegen die die Polen von 1620 bis 1621 Krieg geführt haben. Ruggiero ist der Prinz aus Polen. Mit dieser Handlung hat sich Maria Maddalena als Machthaberin inszeniert und auch als Befreierin Europas gegen die muslimische Bedrohung.
Wie übersetzt man so etwas für ein heutiges Publikum?
Ich habe den Text auf mich wirken lassen, ganz unvoreingenommen. Darin sieht man auf den ersten Blick einen Kampf zweier Frauen um Ruggiero. So wird Ariostos alter Topos auch in der Sekundärliteratur gerne simplifiziert. Doch für mich geht es um einen Mann zwischen zwei Prinzipien. Das, was Melissa, diese Pflichtinstanz, vertritt, ist unfassbar kriegerisch. Man erschaudert, wenn man den Text liest! Mein Konzept, noch vor Kriegsausbruch entstanden, hat erschreckend an Aktualität gewonnen. Ruggiero versteckt sich auf einer Insel, die nur aus Liebe und Frieden besteht. Dann kommt Melissa und fragt: „Warum legst du deine Waffen nieder? Ganz Europa zieht in den Krieg, und du bist hier, mit einer Hure, du solltest zurückkommen und Scharen von Menschen umbringen.“ Sie verwendet tatsächlich ein Vokabular, als ginge es um die Erweckung des Kriegstriebes. Ruggiero wird durch sein Schuldgefühl wieder in die Pflicht genommen. Deshalb stelle ich insgesamt den Begriff der liberazione, der Befreiung, infrage. Sie spielt auch als Narrativ in der zeitgenössischen Politik eine große Rolle. „Befreit“ man ein Land, indem man es zum Krieg zwingt?
Sie drehen die Vorzeichen der Handlung also um?
Es ist natürlich eine Umkehrung. Man muss als Regisseurin Stellung beziehen. Vertritt Melissa tatsächlich das Gute, so wie es im Text angenommen wird? Sind die Werte, zu denen sie steht, die Werte, zu denen ich auch stehe? Man kann stundenlang diskutieren, ob wir uns selbst auf der Insel verstecken wollen, um nicht zu sehen, was ein paar Kilometer weiter passiert. Ein komplexes Thema – deshalb ist es wichtig, dass wir das Stück aufführen.
Komponistinnen hatten es nie leicht. Wie geht es den Regisseurinnen und Dirigentinnen?
Ich erlebe in den letzten zwei Jahren eine stetige Öffnung gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Als ich selbst eingestiegen bin, habe ich tatsächlich nur einer einzigen Regisseurin assistiert – alle anderen waren Männer. Ich bin dann selbst Regisseurin geworden und sehe, dass immer wieder Dirigentinnen am Pult stehen. Es geht in die richtige Richtung.
Sie sind Sängerin und Germanistin. Wie kam es zur Opernregie?
Ich habe Gesang studiert und unter anderem am Theater an der Wien im Arnold Schoenberg Chor in Bellinis „La straniera“ mitgesungen. Christof Loy hat inszeniert. Es war toll. So ist in mir die Idee zur Regie erwacht. Das Leben von Sänger*innen ist nicht für jeden etwas. Ich fand es intellektuell sehr ernüchternd, nicht nur wegen des Handwerklichen. Meistens interessieren Sänger*innen nur ihre Arien und ihre Rollen. Mir hat die „bigger vision“ gefehlt. Die hat mir das Germanistikstudium gegeben. So habe ich beides verbunden, bin nach Berlin gegangen, um eine Hospitanz an der Deutschen Oper zu machen. Ich habe mich sofort in den Beruf verliebt, und der Beruf sich offensichtlich in mich. Denn dann ging es ganz, ganz schnell.
Wie schwierig ist es, seine eigene Handschrift zu finden?
Man sollte eine Haltung zum Theater haben, dann ergibt sich eine Handschrift von selbst. Ich kenne viele Regisseure, die immer das Gleiche machen. Das Spannende ist doch, die Dinge jedes Mal neu herauszufinden. Ich weiß, dass ich nichts Dekoratives mag, wodurch ich eher in Richtung Abstraktion als Realismus gehe, ohne den Bezug zur Aktualität zu verlieren. Ich konzentriere mich auf das Wesentliche, verdichte die Handlung. Ich stelle den Körper der Darsteller in den Fokus. Er wird für mich zum Subjekt, Objekt und Gefühlsträger. So entsteht zwanglos eine bestimmte Art von Theater.