Die Lebenden versus die Toten. So in etwa lautete das Match um die künftige Profession in Alexandra Krismers kindlichem Kopf. Einerseits wollte sie Gerichtsmedizinerin werden. „Mich interessiert immer der Ursprung, das, was ich nicht sehe, einen Menschen aber zu dem gemacht hat, was er ist. Das gilt gleichermaßen für das Schauspiel. Im Falle der Pathologie heißt es aber auch: Was hat einen Menschen getötet, ohne dass es für jeden ersichtlich ist?“ Andererseits trat sie mit fünf Jahren im Kindergarten als Maria auf und machte dabei eine seltsame Entdeckung: „Ich war aufgeregt und habe es gehasst, auf die Bühne zu müssen. Als ich dann aber meinen Auftritt hatte, bin ich plötzlich ganz ruhig geworden. Lampenfieber ist ein psychischer Zustand, diese Ruhe aber hat meinen ganzen Körper erfasst.“

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Damals sei die Entscheidung für die Bühne gefallen – und ist auch nicht mehr revidiert worden. Wiewohl nicht in einer künstlerischen Familie sozialisiert – ausgenommen ein Großvater, der kurze Zeit in einer bekannten Laienspielgruppe aktiv war –, schloss die gebürtige Innsbruckerin die Schauspielschule bereits mit neunzehn Jahren ab, war vier Jahre lang Ensemblemitglied im Landestheater Salzburg und verlegte ihren Hauptwohnsitz für die darauffolgenden elf Jahre nach Deutschland, wo sie unter anderem an den Münchner Kammerspielen und am Residenztheater spielte.

2009 wechselte sie nicht der Liebe, sondern einer Scheidung wegen nach Wien. „Ich wollte zurück in mein Heimatland und fühlte mich stark genug für diese Stadt“, erzählt sie retrospektiv. Ja, stark genug, denn sie gehört nicht zur Spezies der überdrehten Lautsprecherdiven, die ihr behauptetes Selbstbewusstsein ostentativ zur Schau stellen. „Ich habe auch schon sehr exaltierte Frauen gespielt, bin darin aber nicht allzu gut. Ich kann das zwar, muss aber jedes Mal hart trainieren“, gibt sie unumwunden zu, was anderen nicht wahrheitsgemäß in den Sinn käme. Aber Alexandra Krismer will auch nicht als „Star“ wahrgenommen werden, sondern ihre Ausstrahlung erden.

Das mag selten geworden sein, ist aber zeitlos authentisch. „Auch ein Monolog wäre nichts für mich, das würde mich nicht befriedigen. Ich möchte gemeinsam mit Kolleg*innen eine Geschichte erzählen und das Publikum auf diese Reise mitnehmen.“ Dass es auf den ersten Blick absurd erscheint, zugleich schüchtern zu sein, sich aber dermaßen auf einer Bühne auszustellen, weiß sie selber.

Intellektuelle Blase

„Mich interessiert vor allem das Dahinter, das Geheimnis“, erklärt sie ihr Faible für diesen Beruf, „andere Leben darzustellen, die mit meiner Persönlichkeit oft wenig gemein haben.“ Weshalb die Figur der Warwara in Maxim Gorkis „Sommergäste“ eine besondere Herausforderung sei. „Sie ist mir sehr ähnlich. Eine stille, nachdenkliche Frau, die nach dem Sinn des Lebens sucht und sich inmitten dieser klug parlierenden Menschen nicht sehr wohlfühlt, worunter sie auch leidet.“

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Ihr gehe es privat ähnlich. „Ich rede sehr gerne mit anderen Menschen, aber nicht in einer Gruppe. Da bin ich eher die Beobachterin, aber nicht im Sinne von urteilend, sondern ich bin mehr mit Fühlen beschäftigt als mit Reden. Wenn es aber um wesentliche Dinge geht, kann ich auch sehr gut für mich selber eintreten.“

Die aktuelle Relevanz von „Sommergäste“, bei dem sich dreizehn 
Urlauber der russischen Mittel- und Oberschicht kurz nach der Jahrhundertwende treffen, um einander wortreich wenig zu sagen – und noch weniger Handlungen zu setzen –, liegt für Alexandra Krismer auf der Hand.

„Diese Gruppe von Menschen befindet sich in einer intellektuellen Blase und ist so sehr mit Reden beschäftigt, dass sie vollkommen das Tun vergisst. Und das ist wohl ein sehr heutiges Thema. Die Leute wissen meist alles besser, ohne den Beweis dafür zu erbringen, sie sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie ignorieren, worum es eigentlich geht.“ Die kultivierte Brillanz führt direkt ins egozentrische Nichts. Mit Elmar Goerden inszeniert einer ihrer Lieblingsregisseure, mit dem sie schon „Radetzkymarsch“ realisiert hat, was ihr 2019 eine Nestroy-Nominierung einbrachte.

Ausstieg mit Hindernissen

Just an dem Tag, als die Nachricht von der Nominierung im Postfach lag, hatte sie gekündigt. „Ich wollte für ein halbes Jahr nach Indien gehen, um für die Organisation ‚Animal Aid‘ Tiere in Not zu retten. Über die Nestroy-Nominierung habe ich mich wahnsinnig gefreut, weil sie eine Anerkennung von außen darstellt. Ich sah sie als Geschenk am Beginn meiner Auszeit.“ Dann kam Corona. Alexandra Krismer musste in Österreich bleiben und half in den folgenden Monaten einer befreundeten Reittherapeutin bei der Versorgung von elf Pferden.

Irgendwann habe sie Herbert Föttinger angerufen und sich nach dem werten Befinden erkundigt. „Ich selber war in dem Modus: Ich habe gekündigt und kann nicht mehr zurück!“, ist sie dem Direktor dankbar für das Angebot, wenigstens für ein Stück an die Josefstadt heimzukehren. „Das konnte ich gut annehmen.“ Auf „Das Konzert“ folgte „Die Stadt der Blinden“ – „und schon war ich wieder im Ensemble“. Schön finde sie das.

Wo wird die Vielbeschäftigte – Alexandra Krismer ist aktuell in fünf Produktionen zu sehen – selber heuer im Sommer zu Gast sein? „In der Welt. Wo genau, weiß ich noch nicht. Aber mit Sicherheit am Meer.“

Alexandra Krismer

Foto: Lukas Gansterer

Zur Person: Alexandra Krismer

wuchs in Innsbruck auf, wo sie bereits mit neunzehn die Schauspielschule abschloss und am Landestheater auftrat. Nach vier Jahren im Ensemble des ­Landestheaters Salzburg wechselte sie an die Münchner Kammerspiele, spielte am Residenztheater und auf zahlreichen weiteren deutschen Bühnen. Seit 2009 ist sie Ensemblemitglied im Theater in der Josefstadt. Ihre Leistung in „Radetzkymarsch“ – sie spielte Oberst Kovacs, Valerie von Taußig, Fräulein Hirschwitz und Polizeirat Fuchs – wurde 2019 mit einer NESTROY-Nominierung gewürdigt. 

Zu den Spielterminen von „Sommergäste“ im Theater in der Josefstadt